sehepunkte 16 (2016), Nr. 1

Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer

"Wer die menschliche Geschichte verstehen will, muss 'Natur' als Kategorie einbeziehen." Dieser Einsicht, mit der das Buch endet, wird sich kaum jemand verweigern. Vielleicht auch nicht Behringers Hoffnung, eine "neue Meistererzählung könnte darin bestehen, dass man sich trotz Fortschritt und Hochtechnologie der Vulnerabilität der menschlichen Kultur - insbesondere klimatischen Veränderungen gegenüber - bewusst bleibt." (323) Doch sein Anspruch zielt höher. Behringer versteht die "Tamborakrise" als Schlüssel zum Verständnis der Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts. "Sturz von Regierungen, Massenproteste, Massenmigration, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Agrarreformen, Aufstieg neuer Wissenschaftsdisziplinen, religiöse Erneuerung, Flussregulierung, Pauperismus, die Einführung neuer Technologien, die Gründung von Sparkassen und Lebensversicherungen, die Verschiebung der Gewichte in der Weltpolitik etc." - all diese Ereignisse "ergeben in ihrem Ablauf erst vor dem Hintergrund der Tamborakrise Sinn." (323) Das unscheinbare "etc." im Zitat umfasst so gewaltige "Fernwirkungen der Tamborakrise" (Kapitel 6) wie "Chinas Niedergang: The Great Divergence", "Mfecane" im südlichen Afrika, "Die Erfindung Australiens" oder den "Völkermord in Tasmanien".

Als globalgeschichtliches Zentralereignis, in dem all diese Entwicklungen zusammenlaufen, versteht Behringer den "größten Vulkanausbruch in der menschlichen Geschichte" (9) 1815 auf der indonesischen Insel Sumbawa. Die Folgen für das Weltklima waren gewaltig. Zwar kein "Jahr ohne Sommer", dieser häufig gewählte Titel, auf den auch Behringer nicht verzichtet, sei eine "Übertreibung" (14), doch die Wirkungen in der Landwirtschaft waren katastrophal. In vielen Teilen der Welt kam es zu Ernteausfällen und Hungersnot. Dies und die sozialen, politischen und ökonomischen Folgen - massiver Anstieg der Bettlerzahlen, Hungerunruhen, antisemitische Proteste, weil man jüdische Spekulanten verantwortlich machte, antikoloniale Aufstände, staatliche Eingriffe wie Ausfuhrverbote für Grundnahrungsmittel, Anschwellen der Auswanderung und der Binnenmigration, Beginn einer Cholera-Pandemie, um nur einiges zu nennen - werden in weltweiten Überblicken dargestellt. Das ist jeweils für sich nicht neu, und in der neueren Literatur werden auch Zusammenhänge mit dem Ausbruch des Vulkans Tambora thematisiert, sogar Fernsehsendungen beschäftigen sich inzwischen damit [1], doch diese komplexen Folgen global zu erfassen und zahlreiche Ereignisse dem Vulkanausbruch zuzurechnen, bei denen man dies bislang nicht gesehen hat, ist eine bedeutende Leistung des Autors. Mit ihr hätte er ein Buch füllen können. Doch damit begnügt er sich nicht. Er will "DIE TAMBORAKRISE" (11) als ein Ereignis sichtbar machen, dass für die Menschen damals und für den historischen Rückblick heute die üblichen Verständnisregeln außer Kraft gesetzt habe, weil hier nicht soziales oder politisches Geschehen, "nicht Napoleon oder das Bürgertum, sondern ein Vulkan die Bedingungen setzt." (11) Kurz, eine Herausforderung für die gesamte Geschichtswissenschaft.

Wie sucht Behringer sich diesem selbstgesteckten Ziel anzunähern? Er erzählt. Man kann sein Buch als eine Weltgeschichte der Krisen zwischen 1815 und 1820 lesen, bevor er sich abschließend den "Nachwehen der Tamborakrise" (239) zuwendet. Er erzählt, indem er möglichst oft Zeitgenossen sprechen läßt. Deshalb ist das Buch eine Fundgrube von Zitaten; auch von entlegenen, über die man sich freut. Zusammengefügt wird das erzählte Geschehen mit einem beeindruckend weiten Themenspektrum aus fast allen Teilen Welt durch die Leitidee DIE TAMBORAKRISE. Sie dient dazu, die Vielfalt des globalen Geschehens einem einzigen Ereignis kausal zuzurechnen. Wenn man Geschichtsschreibung als eine handlungsorientierte Wissenschaft begreift, ergeben sich daraus Probleme, mit denen sich Behringer nicht auseinandersetzt, obwohl er an vielen Stellen der bisherigen Geschichtsschreibung Unkenntnis der wahren Zusammenhänge vorwirft. Nur zwei Beispiele seien genannt: Die "Tamborakrise" habe "nicht wenig dazu beigetragen" (19), dass damals in etlichen deutschen Staaten Verfassungen erlassen wurden; die englische Klassengesellschaft sei ebenfalls im "Zeichen" dieser Krise entstanden (46). Hier würde man erwarten, dass der Autor die Akteure analysiert. Doch die Zeitgenossen hatten keine Vorstellung davon, dass sie auf die "Tamborakrise" reagierten. Auch nicht diejenigen, die den Vulkanausbruch zur Kenntnis genommen hatten. Das stellt Behringer klar. Nach welchen Regeln er das so vielfältige Geschehen dem Ausbruch des Tamboras zurechnet, erläutert er nicht. Weil er den Zeitraum 1815 bis 1820 als TAMBORAKRISE definiert, ergibt sich die kausale Zurechnung für ihn von selber. Manchmal sind die Zusammenhänge unmittelbar evident und werden durch Spezialforschung belegt, wenn es etwa um die weltweite Cholera-Epidemie nach 1817 oder um Hungerkrankheiten geht, doch sehr viel mehr Ereignisse werden der "Tamborakrise" zugeordnet, weil sie in dieser Krisenzeit geschehen sind oder einsetzten, wie z.B. das Münchner Oktoberfest und der Cannstatter Wasen. Der württembergische König "machte - entsprechend des Ausmaßes der Tamborakrise in Württemberg - die Reform der Landwirtschaft zu seinem Anliegen." (196). In Behringers weltgeschichtlicher Erzählung erzeugt der zeitliche Rahmen "Tamborakrise" unmittelbar Kausalität. Sie wird durch die Erzählzeit gestiftet und konnte mitunter lange nachwirken. So habe die damalige Erfindung der Draisine - dieses Gefährt brauchte kein Pferdefutter, das Tambora-bedingt teuer geworden war - "im Gedächtnis als ein Modell der automobilen Fortbewegung" überdauert, und dass der Erfinder der Draisine wie des Automobils beide aus Karlsruhe stammten, "stellt immerhin eine weitere Parallele dar." (291f.) Das und mehr wird im Kapitel "Fernwirkungen" der Krise versammelt.

Behringer will mit seiner "Natur"-Geschichte generell der Geschichtswissenschaft eine neue Perspektive bieten. Hier allerdings ergänzt er sein Zurechnungskriterium TAMBORAKRISE durch ein weiteres: das "heutige Zeitalter des Terrors" (237). Diese Erfahrung könne die "Fehlurteile der Historiker" (237) über die Politik vieler Staaten korrigieren und etwa die Karlsbader Beschlüsse als Reaktionen auf "das Mordmilieu" (236), das im Klima der "Tamborakrise" entstanden sei, verständlich machen. Dass man in der neueren Forschung auch ohne Bezug auf diese naturbedingte Krise das politische Geschehen und Hauptakteure wie Metternich anders als im "zeitgenössischen Liberalismus" (237) beurteilt, nimmt Behringer nicht zur Kenntnis.

Es ist nicht einfach, dieses Werk abgewogen zu beurteilen. Es lässt erkennen, warum sich die Geschichtswissenschaft stärker als bisher der "Natur"-Geschichte öffnen sollte. Doch es zeigt auch, wie leicht man sich überheben kann, wenn man die Grenzen, die im eigenen "Sehepuncte" (Chladenius) liegen, nicht hinreichend reflektiert.


Anmerkung:

[1] Einen Einblick für die Schweiz bietet mit weiterführenden Links: http://www.naturwissenschaften.ch/organisations/proclim/37952-hungersnot-in-der-schweiz-nach-vulkanausbruch-1815---sind-wir-heute-fuer-eine-solche-katastrophe-geruestet- (eingesehen 8.12.2015).

Rezension über:

Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München: C.H.Beck 2015, 398 S., 17 s/w-Abb., 3 Ktn., ISBN 978-3-406-67615-4, EUR 24,95

Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München: C.H.Beck 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/01/27367.html


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