sehepunkte 16 (2016), Nr. 1

Johannes Gramlich: Die Thyssens als Kunstsammler

Die Publikation von Johannes Gramlich erschien als Band 3 in der Reihe Familie - Unternehmen - Öffentlichkeit: Thyssen im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Hans Günter Hockerts, Günther Schulz und Margit Szöllösi-Janze. Das gesamte Projekt wurde von einem Forschungsbund unabhängiger Historikerinnen und Historiker mehrerer Universitäten durchgeführt und durch die Fritz Thyssen Stiftung und die Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen gefördert. Die vorliegende Studie ist die gekürzte Fassung der 2013 an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften an der LMU München angenommenen Dissertation von Gramlich.

Die Untersuchung analysiert die auf Kunst bezogenen Aktivitäten von Vertretern dreier Generationen der Familie Thyssen von 1900 bis 1970. Das soziale und ökonomische Handeln der Personen steht hierbei im Vordergrund, sodass weniger die Kunstsammlungen als vielmehr die Sammler in Hinblick auf Investitionen und symbolisches Kapital beleuchtet werden. Welche Motive führten die verschiedenen Mitglieder der Unternehmerfamilie dazu, eine weit ausstrahlende Kunstkollektion aufzubauen, so die grundlegende Frage. Ausgehend von dem Firmengründer August Thyssen, über seine Kinder Fritz und Heinrich bis hin zu den Enkeln galt es, die Praktiken des Sammelns und den Umgang mit dem Kunstbesitz zu reflektieren.

Die Erschließung der sozioökonomischen Entwicklungsgeschichte des Kunstmarktes im 20. Jahrhundert dient dieser Arbeit als Voraussetzung, um die Konsumentenseite und ihre Beweggründe, auf diesem Markt zu investieren, zu untersuchen. Bislang lagen im Interesse der Forschungen vornehmlich der Unternehmensgründer August Thyssen, sein Sohn Fritz und die international bedeutende Kunstsammlung Thyssen-Bornemisza. Die übrigen Familienmitglieder, insbesondere in Hinblick auf die Entwicklung der Sammlungen, blieben hingegen weitgehend unberücksichtigt.

Johannes Gramlich gliedert die Arbeit in 6 Kapitel. Eine ausführliche Einleitung erläutert u.a. Untersuchungsgegenstand, Forschungsstand, Quellengrundlage bis hin zum Vorgehen der Studie. Der erste Teil (Kapitel 2) widmet sich Struktur und Entwicklung des Kunstmarktes von seinen Anfängen bis zur Mitte der 1920er-Jahre unter besonderer Berücksichtigung von Wert und Nutzen der Kunst sowie dem Kunstsammeln als patriotische oder elitäre Pflicht.

Das dritte Kapitel ordnet die Sammlungen von August und Fritz Thyssen (1900-1926) unter das "Sammeln von Kunst als wirtschaftsbürgerlichen Normalfall". Dabei finden die Sammlung August Thyssens auf Schloss Landsberg und seine Bekanntschaft mit Auguste Rodin besondere Gewichtung. Chronologisch folgt die Bewertung der Sammlung von Fritz Thyssen in Hinblick auf ihre Repräsentation und die Sammlungspraxis.

Das vierte Kapitel untersucht unter der Überschrift "Kunst, Politik und Ökonomie" die Sammlungen von Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza (1926-1947/51). Dieser Teil ist Kern der Untersuchung in einer insgesamt prägenden Zeit für die gesamte Sammlungsentwicklung. So kaufte Heinrich zwischen 1926 und 1936 allein für rund 50 Millionen Reichsmark über 500 Gemälde und stand nachweislich mit über 60 Kunst- und Antiquitätenhandlungen in Verbindung. In diesen Zeitraum fallen auch die erstmalige Präsentation der Sammlung mit 428 Gemälden in der Münchner Pinakothek im Jahr 1930 und die spätere Konfiszierung durch die Nationalsozialisten.

Einen Ausblick gewährt das fünfte Kapitel, das den Kunstmarkt der Nachkriegszeit mit den Sammlungen Fritz Thyssen und Thyssen-Bornemisza (1945-1970) thematisiert. Nach einer einleitenden Charakterisierung des Kunstmarktes unter dem Motto "Flaute, Aufschwung und Hochkonjunktur" nimmt die Sammlung von Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza zunächst eine besondere Stellung ein. Danach werden die Aufteilung der Sammlung an die Erben und ihr jeweiliger Verbleib im ausgehenden 20. Jahrhundert weiter verfolgt.

Das unter Kapitel 6 gezogene Fazit fasst wichtige Aspekte sowie Ergebnisse noch einmal ausführlich zusammen, nachdem zuvor die Ausgangsthese bestätigt wurde: "Kunstwerke konnten ihren Sammlern vielfachen Nutzen bieten und waren daher ein begehrtes Sammelobjekt auch für die Thyssens". Dies gilt auch, wenn die vier ausgewählten Protagonisten jeweils unterschiedliche Ziele verfolgten und sich in den jeweiligen Motiven und Sammlungspraktiken unterschieden. Der eher lange Untersuchungszeitraum ermöglicht, die Praxis des Sammelns zudem insbesondere auf politische, ökonomische und kulturelle Veränderungen hin zu überprüfen.

Die Untersuchung gewährt einen sehr guten Einblick in die Praxis des Kunstsammelns im 20. Jahrhundert und beleuchtet das Agieren auf dem internationalen Kunstmarkt. Hierzu wertet sie umfangreiches Archiv- und Quellenmaterial unter Berücksichtigung umfassender Literatur aus, gibt so einen eindrucksvollen Eindruck in das weit verzweigte Netzwerk und zeigt das Interesse der Akteure im Umgang mit unterschiedlichen Kunstwerken deutlich auf. Diese Arbeit legt damit auch eine breite Grundlage für viele weitere Forschungsansätze.

Die Weg bereitenden Vertreter dieser namhaften Familie werden einzeln charakterisiert und ihr Handeln insbesondere im Spannungsfeld von Kunst und Ökonomie über mehrere Generationen hinweg anschaulich skizziert. Der Firmengründer August Thyssen (1842-1926) und sein ältester Sohn Fritz (1873-1951) nutzten die Kunstsammlung zunächst als standesgemäße Ausstattung ihrer Wohnsitze. Die folgende Generation mit Augusts jüngstem Sohn Heinrich Thyssen-Bornemisza (1875-1947) und seinem Enkel Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza (1921-2002) agierte dann weit gezielter auf dem Kunstmarkt und erweiterte die Sammlung beträchtlich.

Doch wie bei einem Unternehmen offensichtlich nicht anders zu erwarten, wird in dieser Studie die Kunst bzw. "die als qualitativ hochwertig anerkannte Ware" (10) als Mittel zum Zweck enttarnt, um sie für die eigenen mannigfaltigen Interessen einer erfolgreichen Unternehmer-Dynastie nutzbar zu machen. Schließlich war diese ja auch nur für eine vermögende Elite erschwinglich (10). Dabei ist die vorgenommene Bewertung des Materials, etwa bei den Marmorskulpturen Rodins oder gar von Keramikkunst (120), aus kunsthistorischer Sicht jedoch sehr fragwürdig und kein überzeugendes Argument.

Die soziologische Perspektive auf Märkte und auf ökonomisches Handeln wird in dieser Studie genutzt, um die Herausarbeitung von Funktionsmechanismen und Konjunkturen des Kunstmarkts herauszustellen. Das Ziel, einen geschichtswissenschaftlichen Zugriff auf den Kunsthandel des 20. Jahrhunderts zu entwickeln, wäre allerdings vertretbarer, wenn man dabei auch den Handlungsgegenstand konkreter berücksichtigt hätte. Immerhin geht es hierbei um Sammlungsobjekte, deren Handel von zahlreichen Faktoren und Persönlichkeiten abhängt und daher sehr schwer fassbar ist, wie in der kunsthistorischen Forschung längst bekannt und hinreichend untersucht wurde.

Weitgehend ausgeblendet wird in dieser Studie, dass mit dem Sammeln von Kunst in der Regel auch eine besondere Leidenschaft und Kunstliebe verbunden ist. Hat einen Sammler diese Begeisterung erst einmal erfasst, strebt er danach, immer mehr und einzigartige Werke zusammenzutragen. Dass hierfür bei einer derartig erfolgreichen, einflussreichen und hervorragend vernetzten Unternehmerfamilie alle Mittel und Wege offen standen, wurde hier ja hinreichend dargelegt. Der Wunsch der Thyssens nach einem eigenen Haus für die erworbene Kunst, das auch mit dem Namen verbunden ist und für die Nachwelt erhalten bleibt, ist bei großen Sammlern folglich weit verbreitet. Über die Betrachtung der Familie Thyssen hinaus wäre daher ein umfassenderer Vergleich mit anderen hochwertigen Sammlungen (Guggenheim, Ludwig) in dieser Zeit sicherlich aussagekräftig gewesen.

Die Publikation erwähnt verschiedene Bestandslisten der Kunstwerke, ohne sie jedoch wenigstens in Auszügen zu zitieren. Auch die insgesamt 12 schwarz-weißen Abbildungen zeigen nur wenige, eher unbedeutende Kunstwerke und vermitteln keinen Eindruck von der großen und prachtvollen Kunstsammlung, die für diese Studie schließlich grundlegend ist. Die erwähnten Objekte werden häufig nur mit Künstlernamen (272; 314; "ein Bild von Rembrandt", 358) und selten mit dem Titel angegeben, sodass eine eindeutige Identifizierung der Werke meist nicht möglich ist. Ebenso sind bei Kunstwerken Größenangaben in m2 (79: "und erlöste für das 2,7 Quadratmeter große Bildnis"; 123: Tapisserie "") kaum aussagekräftig.

Im dem zentral ausgelegten Kapitel 4 zur "Kunst, Politik und Ökonomie" werden für den Kunsthandel während der NS-Zeit viele markante Quellen, aber auch ältere und sehr allgemeine Literatur zitiert, die dem aktuellen Forschungsstand nicht mehr gerecht wird. Die Aussage: "Die nationalsozialistische Inbesitznahme der Kunst ist vergleichbar mit dem wachsenden Kunstinteresse des Bürgertums im 19. Jahrhundert" (21) mutet in diesem Zusammenhang zudem sehr befremdlich an.

Die von Johannes Gramlich vorgelegte Untersuchung über die Thyssens als Kunstsammler beleuchtet hervorragend das Sammeln dieser einflussreichen Unternehmerfamilie über drei Generationen in der Zeit zwischen 1900 und 1970. Hierbei werden insbesondere die für Händler und Sammler auf dem Kunstmarkt des 20. Jahrhunderts bestehenden Unwägbarkeiten und Risiken unter ökonomischen Gesichtspunkten grundlegend analysiert. Die große Sammelleidenschaft und das besondere Gespür namhafter Persönlichkeiten der Familie Thyssen für den Erwerb und Besitz herausragender Kunstwerke treten folglich in den Hintergrund zugunsten einer sehr umfassenden historisch-soziologischen Analyse zur Entwicklung einer wertvollen Sammlung als wirtschaftliche Investition und symbolisches Kapital.

Rezension über:

Johannes Gramlich: Die Thyssens als Kunstsammler. Investition und symbolisches Kapital (1900-1970), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 428 S., ISBN 978-3-506-77981-6, EUR 49,90

Rezension von:
Katja Terlau
Köln
Empfohlene Zitierweise:
Katja Terlau: Rezension von: Johannes Gramlich: Die Thyssens als Kunstsammler. Investition und symbolisches Kapital (1900-1970), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/01/28110.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.