sehepunkte 16 (2016), Nr. 2

Rezension: Kindheiten im Zweiten Weltkrieg

Die sogenannten Kriegskinder erfahren in den letzten Jahren weltweit vermehrt Aufmerksamkeit. Vor allem in Deutschland erschien nach der Jahrtausendwende eine Vielzahl autobiografischer Texte, begleitet von der literarischen und filmischen Verarbeitung des Themas. Doch so sehr Kinder, ob als "letzte Zeugen" in den anthologischen Darstellungen oder als historische Analysekategorie, derzeit auch en vogue sind, die systematische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vielen "Kindheiten" im Zweiten Weltkrieg steht immer noch am Anfang. In Deutschland konzentrierte sie sich bis jetzt fast ausschließlich auf das Schicksal deutscher Kinder. Die Erfahrungen jener Kinder, die zu Opfern nationalsozialistischer Rassenpolitik und des Vernichtungskrieges im Osten Europas wurden, sind bislang sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch in der Forschung nur marginal präsent. Die beiden hier besprochenen neuen Studien, die den Fokus explizit auf diese Gruppe der Opfer richten, bieten nun eine gewisse Korrektur dieser verzerrten Wahrnehmung.

Die bereits 2013 erschienene Arbeit von Johannes-Dieter Steinert, Professor an der University of Wolverhampton (Großbritannien), nimmt das Schicksal polnischer und sowjetischer Kinder in den Blick, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert oder vor Ort zur Arbeit gezwungen wurden. Obwohl die Erforschung der Zwangsarbeit bereits seit Langem betrieben wird, verdient dieses Buch das Prädikat "Pionierstudie" - nicht nur, weil es eine erste detaillierte Darstellung der organisatorischen Abläufe der Zwangsrekrutierung und Deportation von schätzungsweise bis zu 1,5 Millionen polnischer und sowjetischer Minderjähriger bietet, sondern vor allem, weil der hier vertretene methodologische Ansatz diese Kinder nicht als Objekte nationalsozialistischer Besatzungspolitik, sondern als handelnde Subjekte auffasst und ihren Erfahrungen und Zeugnissen neben konventionellen Quellen viel Platz einräumt. Dieser Zugang spiegelt sich in der breiten Quellenbasis (16 Archive und Vielzahl an Interviewsammlungen) und in der Gliederung des Buches wider. Es setzt sich aus zwei Teilen, die jeweils der Erfahrung der Deportation und der Erfahrung der Zwangsarbeit gewidmet sind, zusammen und verdichtet historische Fakten mit subjektiven Erfahrungsberichten zu einer gelungenen Darstellung. Der erste Teil fokussiert sich auf die Grundzüge deutscher Besatzung- und Germanisierungspolitik in Polen und in der Sowjetunion und behandelt folgende sechs Bereiche systematisch:

1) die Vertreibungen polnischer Bevölkerung aus den annektierten polnischen Gebieten und aus dem Gebiet um Zamość; 2) die Deportation polnischer und sowjetischer Hausgehilfinnen nach Deutschland; 3) das Weißruthenische Jugendwerk und seine Bedeutung bei der Erfassung minderjähriger Zwangsarbeiter; 4) die Deportationen aus den Partisanen-Gebieten; 5) die Vertreibungen der Zivilbevölkerung im Zuge der Politik der verbrannten Erde und 6) die Verschleppung von Kindern im Zuge der im Gebiet der Heeresgruppe Mitte Anfang 1944 initiierten HEU-Aktion (abgekürzt für: heimatlos, elternlos und unterkunftslos).

In diesen Kapiteln werden nicht nur faktenreich und dicht die engen Verflechtungen zwischen Himmlers Germanisierungsplänen und den Deportationen sowie die zunehmende Brutalisierung deutscher Rekrutierungspolitik beschrieben. So wurden die polnischen und sowjetischen Hausgehilfinnen im Alter von 15 Jahren und jünger nach rassistischen Kriterien mit der Option auf deren spätere "Eindeutschung" ausgesucht. Steinert thematisiert auch die Beteiligung von zivilen und militärischen Stellen an der Zwangsrekrutierung von Kindern und die Konkurrenz dieser Stellen mit dem SS-Apparat. Die Verwicklung der Wehrmacht in diese Massenverbrechen war zwar regional unterschiedlich und nicht zentral gesteuert, doch profitierte sie bereits mit dem Beginn des Krieges von der Zwangsrekrutierung, die sie ab 1943 verstärkt einheitlich zu regeln versuchte. Mit fortschreitender Kriegsdauer nahm die Zusammenfassung und Kasernierung der Bevölkerung in Lagern für die Belange der Wehrmacht solche Ausmaße an, dass sogar "ganze Gebiete von den Deportationen nach Deutschland ausgenommen wurden" (205). Zugleich wurde die Altersgrenze der zur Arbeit rekrutierten Kinder zum Kriegsende hin bis auf zehn Jahre herabgesetzt und in der Praxis ohnehin stets unterlaufen. Insofern war die Politik der Erfassung und Zwangsverpflichtung polnischer und sowjetischer Kinder, die auf der untersten Stufe der rassistischen nationalsozialistischen Hierarchie standen, in beiden Gebieten durchaus vergleichbar, wenngleich es auch einige grundsätzliche und innerhalb der Sowjetunion sogar regionale Unterschiede bei der Durchsetzung von Melde- und Arbeitspflicht gab. So waren in der Sowjetunion Strafen für Zuwiderhandlung von Beginn an höher als in Polen und die Bevölkerung in den vom Militär verwalteten Gebieten war häufiger Gewalt und Misshandlung ausgesetzt. Sowohl in Polen als auch in der besetzten Sowjetunion schützte der Besuch einer Schule Kinder nicht vor Zwangsarbeit, der Arbeitseinsatz vor Ort aber mitunter vor der Deportation nach Deutschland.

Im Zweiten Teil des Buches kommen verstärkt die Opfer dieser Politik zu Wort. In Kapitel drei werden unter mehreren Aspekten (Ankunft und Heimweh, Unterkunft und Ernährung, Arbeit, Widerstand, Flucht, Strafen, Kontakte und Begegnungen) Erfahrungen der Zwangsarbeit in Deutschland thematisiert. Trennung von Eltern und Familie, Erniedrigungen, Diffamierungen und Angriffe durch deutsche Bevölkerung (vor allem durch die Hitler-Jugend), Heimweh und Hunger, harte Arbeitsbedingungen und schlechte Unterkünfte prägen diese Erinnerungen. In den Selbstzeugnissen der sowjetischen Kinder nimmt die unmenschliche Deportation in den Güterwagen einen breiten Raum ein.

Kinder wurden nicht nur als Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt, sondern auch als billige Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft im zivilen oder militärischen Bereich vor Ort eingesetzt sowie zur Arbeit in Lagern gezwungen. Diesem wenig erforschten Bereich widmet sich der Autor im Kapitel vier. Aufschlussreich ist vor allem die exemplarische Untersuchung der Kinderzwangsarbeit im Polen-Jugendverwahrlager in Litzmannstadt und in den Lagern Pustków (im Generalgouvernement) und Potulice (im annektierten polnischen Gebiet) - allesamt Lager mit hohem Anteil von Kindern, die bisher vorwiegend im Blickfeld polnischer Forschung standen.

Alles in allem ist festzuhalten, dass die systematische Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Kinderzwangsarbeit unter deutscher Besatzung oder Schilderung einzelner von der deutschen Forschung bisher wenig beachteten Vorgänge (so die HEU-Aktion) mit Einbeziehung subjektiver Erlebnisberichte dieses Buch zu einem Standardwerk qualifizieren. Mit seinem pluralistischen Ansatz leistet der Autor einen innovativen Beitrag zur Grundlagenforschung über die Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkriegs und legt auch überzeugend dar, wie das Deutsche Reich von der Arbeitskraft osteuropäischer Kinder profitierte. Was allerdings bedauerlicherweise ausbleibt, ist die Reflexion über die osteuropäische Forschung. Sowohl die inzwischen im heutigen Russland, Weißrussland oder auch in der Ukraine veröffentlichten Erinnerungen von Betroffenen, als auch dokumentarische Ausgaben finden keinen Eingang in das Literaturverzeichnis. Auch Archivverweise im Text hinterlassen den Eindruck, dass hier, etwa im Falle des vom Autor fälschlicherweise als Nationales Historisches Archiv der Republik Belarus bezeichneten Archivs (die hier zitierten Bestände stammen aus dem Nationalen Archiv, während das Historische Archiv Bestände aus dem XIV.-XX. Jahrhundert enthält) lediglich Materialien deutscher Provenienz eingesehen wurden. Etwas mehr Transparenz über die verwendeten Quellen und eingesehenen Bestände wäre wünschenswert. Die Frage, was nun die Geschichtswissenschaft im heutigen Polen, Russland oder Weißrussland zu diesem Themenkomplex sagt und welchen Platz das Schicksal der nach Deutschland verschleppten Kinder in der öffentlichen Erinnerungskultur hat, bleibt offen.

Die autobiografischen Texte der sowjetischen Kriegskinder, die als Textzeugen an die Stelle der "letzten Zeugen" vom "Großen Vaterländischen Krieg" treten, stehen im Zentrum der 2014 veröffentlichten Dissertation von Oxane Leingang. In sieben thematisch untergliederten Kapiteln (Waisenhauskindheiten, Kindheit und Jugend während der Blockade, junge Soldaten, sowjetische Kinder und Jugendliche als "Ostarbeiter" in Deutschland, Kindheit im sowjetischen Hinterland, Stalingrader Kriegskindheit, sowjetische Kindheit während der Shoah) werden hier zwanzig literarische, mehrheitlich auf Russisch vorliegende Werke vorgestellt und mit der Frage nach überlieferten Sinnkonstruktionen und nach der Tradierung der Kriegserfahrungen im individuellen sowie kollektiven Gedächtnis Russlands analysiert (15). Zwar handelt es sich dabei um eine primär literaturwissenschaftliche Arbeit, die Erinnerungen werden hier aber so souverän mit westlichen und osteuropäischen zeithistorischen Forschungsergebnissen aus den letzten Jahren in Bezug gesetzt, dass das Buch ein gelungenes Beispiel für fachübergreifendes Denken darstellt.

Mit der hier dargebotenen Einordnung der behandelten Werke und Themen in die aktuelle internationale Forschung gibt Leingang einen Überblick über die verschiedensten Aspekte sowjetischer "Kriegskindheit", aber auch die Desiderate ihrer Erforschung. Das primäre Interesse der Autorin gilt aber nicht der Historizität der Vorgänge, sondern der Diversität individueller Erinnerungen, der ex-post konstruierten Wir-Identität und dem Verhältnis zur kollektiven Gedächtniskonstruktion im heutigen Russland. Dabei schlussfolgert sie aus den behandelten Werken einen postheroischen Paradigmenwechsel im öffentlichen Diskurs Russlands: Opfer mit ihrer individuellen Vergangenheitsbewältigung verdrängen hier eine homogene, ideologisch überfrachtete und jahrzehntelang gepflegte Gedächtniskonstruktion (285). Die Klage über das langjährige Beschweigen der kindlichen Traumata spricht fast aus jedem Werk. Das Besondere der hier behandelten Texte besteht in der Tat darin, dass sie alle bis auf einen (von Anatolij Pristavkin), auch jene, die unmittelbar während oder nach dem Krieg zu Papier gebracht wurden, erst im postsowjetischen Russland erscheinen konnten und in einem äußerst systemkritischen Modus verfasst sind. Selbst in dem stellenweise zur Schau gestellten Sowjetpatriotismus einiger Autoren ist ein systemkritischer Subtext erkennbar. An zahlreichen Stellen des Buches stellt sich gar die Frage, um welche Opfer es hier eigentlich geht: um jene des deutschen Vernichtungskrieges oder des Stalinismus? So thematisieren der bekannte russische Schriftsteller Anatolij Pristavkin und Michail Nikolaev in ihren Werken die desaströsen Zustände in den sowjetischen Waisenhäusern der Kriegszeit, die soziale Ungerechtigkeit und die Doppelmoral der sowjetischen Gesellschaft. Die Autorin bestätigt mit knappen Kommentaren die Befunde über die schwierige soziale Lage der Waisen in der UdSSR vor und während des Krieges, lässt aber das Leben der Kinder in Kinderheimen auf den umkämpften oder besetzten Gebieten völlig außer Acht. Ob zufällig oder schlicht auf Grund mangelnder Forschung lässt sich Leingang ähnlich von den anderen Zeitzeugen leiten. Denn bei den meisten der hier analysierten Werke - ob von Überlebenden der Leningrader Blockade, ehemaligen jungen Ostarbeitern oder jenen, die den Krieg als Jugendliche an der Front erlebt haben, - steht nicht die Abrechnung mit den nationalsozialistischen Gräueltaten, sondern die Aufarbeitung des Stalinismus und die Kritik am monolithischen sowjetischen Kriegsbild an erster Stelle; selbst in den Erinnerungen der Überlebenden der Shoah! Es gibt freilich Ausnahmen, wie die in patriotischen Tönen und mit standardisiertem Vokabular verfassten Erinnerungen der Stalingrader Kriegskinder an die Zerstörung der Stadt durch die Wehrmacht und ihr Wiederaufbau. Dieser mit Sowjetnostalgie durchdrungenen entindividualisierten und dem ehemaligen Feind gegenüber unversöhnlichen Erinnerung attestiert die Autorin die Überformung durch die kollektive sowjetische Meistererzählung. Einzelne literarische Aufzeichnungen verfallen somit durchweg Einflüssen der sowjetischen Historiografie und reproduzieren frühere Interpretationsschemata, z.B. das von einer kriegsbedingten einheitlichen solidarischen Schicksalsgemeinschaft.

Unter den analysierten Texten werden am Ende insgesamt drei Haltungen ausdifferenziert, welche die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg" im heutigen Russland spalten: die regimekritischen, die zur Idealisierung der Vergangenheit und sogar zum Stalinismus neigenden und die entpolitisierten Deutungen, die das Regionalbewusstsein und Opfergedächtnis der Provinz thematisieren. Hier stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die von Leingang herangezogenen Werke repräsentativ sind. Leider erfährt man nichts darüber, auch nicht über die Kriterien bei der Auswahl der Texte. So bleibt auch die durch das ganze Buch mitschwingende These vom "postheroischen Paradigmenwechsel" Russlands diskussionsbedürftig. Unstrittig ist hingegen die von Leingang konstatierte "Pathographie einer ganzen Kriegskindergeneration", die mit ihren verschriftlichten Zeugnissen den Anspruch auf Opferstatus und Repräsentanz im öffentlichen Gedächtnisraum erhebt. Alle Autoren der analysierten Werke setzen sich mit Traumatisierungen, mit psychischen und somatischen Folgen des Krieges auseinander. Hunger, Sterben und Gewalterfahrungen sind ihre thematischen Konstanten.

Trotz der literaturwissenschaftlichen Ausrichtung ist diese Studie auch für Historiker in vielerlei Hinsicht erkenntnisreich. Erstens macht dieses Buch auf literarisch verarbeitete Erinnerungen als eine zusätzliche Quelle aufmerksam. Die "Textzeugen" (292) des Krieges sind vor allem von Interesse, weil sie buchstäblich das Letzte sind, was von den lebendigen Zeugen übrig bleibt, und weil sie tragische Erfahrungen einer Kriegskindergeneration transportieren, die nie Gegenstand sowjetischer Geschichtserzählung waren und kaum durch sowjetische Mythen und Meistererzählungen tradiert sind. Zweitens wird mit diesem Buch fachübergreifender Wissenstransfer geleistet und damit ein differenziertes Bild von der heutigen Erinnerungskultur in Russland gekennzeichnet. Drittens zeigt diese Studie nebenbei, dass die Erforschung des Großen Vaterländischen Krieges nicht vom Phänomen des Stalinismus abgekoppelt werden kann. Und last but not least führt dieses Buch vor Augen, wie stiefmütterlich die historische Forschung mit den Erfahrungen und Schicksalen sowjetischer Kinder im Zweiten Weltkrieg bisher umgegangen ist. Trotz der gestiegenen Aufmerksamkeit gegenüber der Erlebnisdimension der Kriegskinder bleibt diese wissenschaftlich weitgehend unreflektiert - sowohl in Deutschland als auch in Russland.

Rezension über:

Johannes-Dieter Steinert: Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa 1939-1945, Essen: Klartext 2013, 306 S., ISBN 978-3-8375-0896-3, EUR 29,95

Oxane Leingang: Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur (= Beiträge zur slavischen Philologie; Bd. 18), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014, XV + 324 S., ISBN 978-3-8253-6358-1, EUR 48,00

Rezension von:
Yuliya von Saal
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Yuliya von Saal: Kindheiten im Zweiten Weltkrieg (Rezension), in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/02/27253.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.