sehepunkte 16 (2016), Nr. 2

Bernd Stiegler: Photographische Portraits

Der Konstanzer Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler ist - neben dem Essener Foto-Historiker Steffen Siegel [1] - sicherlich derjenige Wissenschaftler, der den deutschsprachigen Foto-Diskurs in den letzten Jahren (auch quantitativ) am intensivsten bereichert hat. Insofern darf ein Buch mit dem Titel "Photographische Portraits" natürlich Hoffnungen wecken - wobei der Verzicht auf einen erläuternden Untertitel zugleich Raum für Spekulationen eröffnet: Handelt es sich um einen grundlegenden Überblick zur Gattung des fotografischen Porträts? Oder stehen - wie die Umschlagabbildung des 12-teiligen Selbstporträts von Nadar suggeriert - etwa Selbstporträts von Fotografen im Zentrum der Ausführungen?

In seiner zweiseitigen Vorbemerkung klärt Stiegler auf, dass er den Begriff des "Porträts" hier in seiner literarischen Bedeutung verwendet, also eine "essayartige Form" (10) meint, mit der er versucht "anhand eines individuellen Werks den Blick auf die Photographiegeschichte als solche zu richten" (ebd.). Wir haben es also mit einem durchaus ambitionierten Sammelband zu tun, der elf, zu unterschiedlichen Anlässen verfasste Aufsätze aus den Jahren 2010 bis 2015 (vgl. 249-251) unter dem Horizont einer Historiografie der Fotografie versammelt. Der in dieser Hinsicht vielleicht etwas zu ausgedehnte Anspruch verwundert bereits bei der Lektüre der Vorbemerkung, hat der Kenner doch im Blick auf das voran stehende Inhaltsverzeichnis bereits einige weniger prominente Namen gelesen. Können Alvin Langdon Coburn, Wallace Edwin Dancy, Albert Renger-Patzsch, Alexander Rodtschenko, Gottfried Jäger, Boris Mikhailov, Simone Kappeler, Elmar Mauch, Michael Reisch, Regula Bochsler und Philipp Goldbach wirklich einen hinreichenden oder gar exemplarischen Blick auf die Fotogeschichte seit dem 20. Jahrhundert vermitteln? Man wird es begrüßen, dass Stiegler eigensinnig nicht den Vorgaben des (schon längst nicht mehr boomenden) Kunstmarkts der Fotografie folgt. Seine Auswahl überzeugt deshalb im Hinblick auf die Vielfalt der künstlerischen Fotografie, lässt aber Zweifel an der gleich bleibenden Qualität der untersuchten Positionen aufkommen.

Sieht man von diesen konzeptuellen Fragestellungen einmal ab, wobei man konzedieren muss, dass potentiell jede Selektion individueller Positionen zur Kritik und Ergänzung herausfordert, und vertieft sich in die inhaltliche Lektüre des sprachlich wirklich angenehm zu lesenden Buches, so kann man feststellen, dass man stets konzise Einführungen in das Werk der jeweiligen Fotografen (übrigens sind nur zwei Positionen weiblich) erhält. Sehr kenntnisreich geht Stiegler immer wieder auf die jeweiligen bildlichen und technischen Besonderheiten ein und verweist stets auf die relevanten fotohistorischen Kontexte. Hier stechen die Beiträge zu Renger-Patzsch und Rodtschenko heraus (vgl. 53-107), wohingegen der Leser ab dem Kapitel über Mikhailov (vgl. 129ff.) die fehlende Farbigkeit der Abbildungen als wirklich qualitative Einschränkung in der Folge der guten Texte erfährt. Das ist besonders bedauerlich im Falle der außerhalb der Schweiz nahezu unbekannten Simone Kappeler (* 1952), zu der Stiegler etwas euphorisch meint: "Wollte man ihre jüngere Geschichte schreiben, so hätte Simone Kappeler in ihr fraglos ein besonderes Kapitel verdient, den sie hat die Arbeit mit der photographischen Farbe so weit getrieben wie kaum jemand sonst." (153)

Die hier vorgetragenen Kritikpunkte sollten im Blick auf eine Gesamtbeurteilung des Buches jedoch angemessen gewichtet verstanden werden. Denn sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den "Photographische(n) Portraits" insgesamt doch um ein ideales Buch zum punktuellen Einstieg in die Fotogeschichte, aber auch für Fortgeschrittene um eine kurzweilige Synopse einer Problemgeschichte der Fotografie des 20. Jahrhunderts (mit Ausflügen in die Gegenwart) handelt. Nach Stieglers grundlegendem Buch zur Theoriegeschichte der Fotografie und zusammen mit dem auf Einzelwerke fokussierten Reclam-Band "Meisterwerke der Fotografie" [2] zählt das vorliegende Buch zu den praktischsten neueren Überblicken in deutscher Sprache, die sich als Bestandteile (selbst) für jede kunsthistorische Privatbibliothek anbieten.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Steffen Siegel, München 2014; sowie die zwei rezensierten Monografien: Gerald Schröder: Rezension von: Steffen Siegel: Ich ist zwei andere. Jeff Walls Diptychon aus Bildern und Texten, München 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/09/24521.html; sowie Stefan Gronert: Rezension von: Steffen Siegel: Belichtungen. Zur fotografischen Gegenwart, München 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/07/25011.html.

[2] Vgl. Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006; Bernd Stiegler / Felix Thürlemann: Meisterwerke der Fotografie, Stuttgart 2011.

Rezension über:

Bernd Stiegler: Photographische Portraits, München: Wilhelm Fink 2015, 251 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-5941-1, EUR 29,90

Rezension von:
Stefan Gronert
Kunstmuseum Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Gronert: Rezension von: Bernd Stiegler: Photographische Portraits, München: Wilhelm Fink 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/02/27886.html


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