sehepunkte 16 (2016), Nr. 2

Andreas Lawaty / Marek Zybura (Hgg.): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme

Seit seiner Einführung im Jahr 1901 wurde der Nobelpreis für Literatur insgesamt fünfmal polnischen Schriftstellern und Dichtern verliehen. Henryk Sienkiewicz (1905) und Władysław Reymont (1924) machten den Anfang, ehe nach dem Zweiten Weltkrieg Isaac Bashevis Singer (1978), Czesław Miłosz (1980) und Wisława Szymborska (1996) folgten. Während die ersten beiden diese Auszeichnung aufgrund ihrer erzählerischen Leistungen erhielten, waren bei den Übrigen transästhetische Kriterien mitausschlaggebend. So hieß es im Falle von Miłosz, er habe "mit kompromissloser Klarsicht der Stellung des Menschen in einer Welt von schweren Konflikten Ausdruck verl[iehen]". Dass Dichter sich zum Anwalt des Menschen machen, war Anfang der 1980er-Jahre keine neue Erkenntnis mehr. Darin aber nur einen rhetorischen Topos zu sehen, hieße die spezifischen Bedingungen zu verkennen, unter denen Miłosz' Texte im Verlauf von etwa siebzig Jahren entstanden sind. Als Dichter stand Miłosz seit jeher an der Nahtstelle zwischen Ost und West, an der, angestoßen durch die Gewerkschaftsbewegung Solidarność, im Jahr der Verleihung des Nobelpreises zusammenzuwachsen begann, was sich viele Jahrzehnte lang einander feindlich gegenübergestanden hatte. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1989 und die Wahl des Gewerkschaftsgründers und einstigen Streikführers Lech Wałęsa 1990 zum polnischen Staatspräsidenten waren die vorläufigen Höhepunkte dieser Entwicklung, an der auch Karol Wojtyła, der 1978 zum Papst gewählte Erzbischof von Krakau, einen entscheidenden Anteil hatte. Zu beiden stand Miłosz in Kontakt.

Obwohl Miłosz zeit seines Lebens das Polnische als Literatursprache pflegte, verstand er sich als Kosmopolit. Er wuchs in einer Landschaft auf, in der baltische und polnische Kultur sich berührten, engagierte sich während des Zweiten Weltkriegs in der polnischen Untergrundbewegung, trat nach dem Krieg in den diplomatischen Dienst der VR Polen, der ihn zunächst nach New York und später nach Washington führte, und ging Anfang der 1950er-Jahre ins Exil nach Frankreich, ehe er 1961 zum ordentlichen Professor für Slawistik an der University of California in Berkeley berufen wurde.

Obwohl seine Texte bereits seit den 1950er-Jahren in deutschen Übersetzungen greifbar waren, die in renommierten Literaturverlagen wie Kiepenheuer & Witsch oder Hanser erschienen, gelangten sie nur allmählich in den Blickpunkt des Feuilletons der großen Tageszeitungen und der Literaturwissenschaft. So ist die Zahl an Monografien und Sammelbänden, die sich Miłosz' Werk widmen, überschaubar geblieben. Der vorliegende Band erfüllt daher ein Desiderat der Ostmitteleuropaforschung. Er entstand im Rahmen des am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau durchgeführten Forschungsprojekts "Visionen Europas" und dokumentiert die Erträge eines internationalen Symposions, das 2011 anlässlich von Miłosz' 100. Geburtstag in Zusammenarbeit mit dem Lüneburger Nordost-Institut stattfand. Literaturwissenschaftler, Philosophen und Übersetzer verständigten sich über einen Dichter, den Joseph Brodsky nicht zu Unrecht einmal als "one of the greatest poets of our time, perhaps the greatest" bezeichnet hatte, da in seinem Werk die Erfahrungen extremer politischer Ideologien des 20 Jahrhunderts ebenso ihren Niederschlag gefunden hätten wie die Frage nach einer europäischen Heimat und Identität.

Der von Andreas Lawaty und Marek Zybura herausgegebene Band gliedert sich in vier sachlogisch begründete Kapitel, die allesamt zentralen Aspekten von Miłosz' Leben und Werk gewidmet sind. Gerhard Bauer behandelt Miłosz' "Poetik des unaufgelösten und bohrenden Dilemmas" (31), das daraus resultiert, dass Sprache nicht in der Lage ist, die empirische Wirklichkeit zu durchdringen oder auch nur angemessen abzubilden, während Matthias Freise den 1947 veröffentlichten Traktat moralny [Moralischer Traktat] einerseits als Reflexion über Geschichte, andererseits als Auseinandersetzung mit dem kulturgeschichtlichen Kontext seines Werkes liest. Magdalena Marschałek und Rolf Fieguth wenden sich der poetischen Konstruktion von Stadt und Landschaft zu, wobei Letzterer einen aufschlussreichen Vergleich mit Friedrich Hölderlin und Johannes Bobrowski unternimmt. Mirosława Zielińska schließlich stellt die Schreibweisen von Miłosz denen von Tadeusz Różewicz gegenüber, der bis zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Szymborska als "größter lebender Lyriker seiner Sprache" (Stefan Platthaus) galt.

Von der Poetik nicht zu trennen ist die Frage nach der literarisch-politischen Konzeption von Raum. Alois Woldan und Alfred Gall untersuchen in ihren Beiträgen Miłosz' Russlandbild, der eine in Abgrenzung vom Deutschland-, der andere in Abgrenzung vom Polenbild. Miłosz' Suche nach einer europäischen Identität im Spannungsfeld zwischen Ost und West gilt das Interesse von Małgorzata Zemła und Hans-Christian Trepte.

Der Auseinandersetzung des Dichters mit dem Totalitarismus sind die Aufsätze von Heinrich Olschowsky, Jürgen Joachimsthaler und Werner Nell gewidmet. Während Joachimsthaler die wechselhafte Rezeption der bei ihrem Erscheinen 1953 von Karl Jaspers hochgelobten Studie Zniewolony umysł [Verführtes Denken] untersucht, in der Miłosz die Instrumentalisierung und Zerstörung des menschlichen Intellekts durch das kommunistische Regime behandelt, kontrastiert Nell die von Miłosz formulierten Thesen mit denen von Manès Sperber und Raymond Aron.

Der Übersetzung als Medium der Vermittlung von Texten wenden sich die letzten drei Beiträge des Bandes zu. Przemysław Chojnowski behandelt die Korrespondenz von Miłosz mit Karl Dedecius, seinem wohl bekanntesten und profiliertesten Übersetzer, und geht an ausgewählten Beispielen Problemen der Nachdichtung der formal variationsreichen und inhaltlich oft durch Stilisierung oder bewusste Archaisierung gekennzeichneten Lyrik nach. Dorota Cygan stellt mit Maryla Reifenberg eine von mehreren Übersetzerinnen von Miłosz' Texten vor. Die Ehefrau des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Benno Reifenberg hatte 1957 den Roman Dolina Issy [Das Tal der Issa] ins Deutsche übersetzt, in den Kindheitserlebnisse des Autors eingegangen sind. Christine Fischer schließlich verabschiedet sich von der Einordnung Miłosz' als eines romantischen Dichters, indem sie in der Zusammenschau von Ausgangstext und Übersetzung moderne beziehungsweise postmoderne Züge nachweist.

Die Herausgeber und Herausgeberinnen haben mit dem vorliegenden Band einen überaus respektablen Beitrag zu Miłosz geleistet. Gleichwohl bleiben einige Leerstellen, die nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sind, dass sich unter den Beiträgern weder ein Historiker noch ein Theologe befindet. So scheint die Frage nach Miłosz' religiösem Standort und nach seiner Haltung zur Kirche allenfalls sporadisch auf, obwohl Miłosz' späte Oden auf Papst Johannes Paul II. eine detailliertere Beschäftigung mit ihr nahelegen. Wünschenswert wären auch Beiträge zum personalen Geflecht gewesen, innerhalb dessen sich Miłosz' Denken und Schreiben vollzog. Auf die Freundschaft mit dem Amerikaner Brodsky oder die Beziehung zu Heinrich Böll, der als Verlagslektor bei Kiepenheuer & Witsch in den 1950er-Jahren zu den ersten deutschen Intellektuellen gehörte, die mit Miłosz' Texten bekannt wurden, wird zwar gelegentlich verwiesen, ein eigener Beitrag dazu fehlt jedoch. Dass Miłosz Netzwerke unterhielt, weiß man seit der Zeit, die er im Untergrund verbrachte. 1944 veröffentlichte er in Z otchłani [Aus dem Abgrund], einer vom Verlag des Jüdischen Nationalkomitees illegal gedruckten Anthologie, sein nachmals berühmt gewordenes Gedicht Campo di Fiori zum Gedenken an die Opfer des Warschauer Gettos. [1] Zu rekonstruieren, wie der Kontakt zu dem Herausgeber der Sammlung, dem Publizisten Tadeusz Sarnecki, zustande kam und in welcher Beziehung Miłosz zu den übrigen Beiträgern der Anthologie, den Literaturwissenschaftlern Jan Kott und Mieczysław Jastrun sowie dem Historiker Michał Borwicz, stand, bleibt der künftigen Forschung aufgegeben, die durch den vorliegenden Sammelband wertvolle Impulse erhalten hat.


Anmerkung:

[1] Ralf Georg Czapla: Warschau, Ostern 1943. Czesław Miłosz' Shoa-Gedicht "Campo di Fiori", in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), Nr. 2, 39-46.

Rezension über:

Andreas Lawaty / Marek Zybura (Hgg.): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. Ars poetica, Raumprojektionen, Abgründe, Ars translationis (= Studia Brandtiana; 8), Osnabrück: fibre Verlag 2013, 335 S., ISBN 978-3-938400-85-2, EUR 35,00

Rezension von:
Ralf Georg Czapla
Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Georg Czapla: Rezension von: Andreas Lawaty / Marek Zybura (Hgg.): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. Ars poetica, Raumprojektionen, Abgründe, Ars translationis, Osnabrück: fibre Verlag 2013, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/02/28419.html


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