sehepunkte 17 (2017), Nr. 5

Sabine Hofmann-Reiter: Zeitverständnis am Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe

Mit der Forschungsarbeit "Zeitverständnis am Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe" legt Sabine Hofmann-Reiter eine der immer noch wenigen Studien zum historischen Lernen mit Bezug auf die Primarstufe vor. Die "Untersuchung wirft einerseits die Forschungsfrage nach den Zeitkonzepten auf, über die Schüler/innen am Beginn des Unterrichts Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung in der 6. Schulstufe verfügen, andererseits wird in weiterer Folge der Frage nachgegangen, wie weit Vorstellungen zum Konzept Zeit von Schüler/innen der 6. Schulstufe von jenen Konzepten differieren, die im Anfänger/innenunterricht der Sekundarstufe I [...] vorausgesetzt werden" (13). Damit wendet sich die Arbeit mehreren, aufeinander zu beziehenden, empirischen Schwerpunkten zu: Außer mit den Zeitkonzepten der Schülerinnen und Schüler befasst sie sich damit, wie Schulbücher versuchen, das Konzept "Zeit" zu vermitteln. In den Blick nimmt sie dabei Sachunterrichtsbücher der österreichischen Grundschule und Lehrwerke, die Anfängerinnen und Anfänger im Fach Geschichte und Sozialkunde / Politische Bildung im Jahrgang sechs in Österreich nutzen. Zugehörige Lehrpläne werden ebenfalls untersucht.

Hofmann-Reiter bespricht theoretische Aspekte sowie entwicklungspsychologische Erkenntnisse zu "Zeit". Entsprechend werden "2. Theoretischer Bezugsrahmen" (17-25), "3. Das Konzept Zeit in der Geschichte" (27-64) und "4. Entwicklungspsychologische Grundlagen" (65-88) den eigenen empirischen Untersuchungen vorausgeschickt.

Unter Punkt zwei befasst sie sich mit Zeitverständnis und Zeitmessung. Beides greift sie im darauffolgenden Abschnitt ebenfalls auf und reichert die Aspekte der Disziplin Geschichte folgend mit weiteren - geschichtstheoretischen und geschichtsdidaktischen - Aspekten an. Des Weiteren geht sie hier ebenfalls auf normative Fragen, wie der nach dem Lehrplan, ein. Die Gesamtstrukturierung der Kapitel eröffnet durchaus Fragen; so ist der zweite Abschnitt mit "Theoretischer Bezugsrahmen" tituliert, während Kapitel drei mit "Das Konzept Zeit in der Geschichte" überschrieben ist.

Daran anschließend trägt Hofmann-Reiter verschiedenste Studien zum kindlichen Zeitkonzept unter Punkt vier zusammen. Leider lässt die Art der Aufarbeitung eine Logik im Sinne der Fragestellung vermissen: Es werden chronologisch verschiedene Studien aufgeführt, ohne eine inhaltliche Strukturierung vorzunehmen. Auch die gewählte Gliederung in "bis 1970" und "aktueller Diskurs" wird von der Autorin nicht konsequent eingehalten.

Die "Bestandsaufnahme des Ist-Zustands im Sachunterricht der österreichischen Volksschule" (89; 89-170) leitet Hofmann-Reiter mit Informationen zum geltenden Lehrplan ein und schließt Untersuchungen zu zwei Schulbuchreihen für den Sachunterricht mit jeweils drei Bänden an. Zur Sekundarstufe I betrachtet sie ebenfalls die curricularen Vorgaben und analysiert sodann 14 unterschiedliche Schulbücher für die sechste Schulstufe in Geschichte / Sozialkunde und Politische Bildung.

Dokumentenanalyse wird als genutzte Methode benannt, jedoch führt Hofmann-Reiter die Methoden der Untersuchungen der Sachunterrichtsbände nicht weiter aus. Als Ergebnis bietet sie eine Zusammenstellung von Unterrichtsinhalten zum Erfahrungs- und Lernbereich "Zeit".

Für die Analyse der Sekundarstufenbände nutzt die Autorin ein Kategorienschema, das sie vorab festgelegt hat und aus dreizehn Kategorien besteht. Sie beschreibt die Ergebnisse zunächst bezogen auf die Einzelbände und stellt schließlich Vergleiche zwischen den Bänden an, die sie auf qualitative wie quantitative Aspekte bezieht. Abschließend kommt sie "im Sinne einer mehrdimensionalen Typenbildung" (167) zu den Typen A (Schulbücher, "die dezidiert zu Zeit arbeiten"; 167), B ("bedienen zumeist formale Zeitkonzeptionen"; 167) und C (keine "[klaren] Strukturen zur Förderung des Zeitkonzepts"; 168). Gleichzeitig muss sie feststellen, dass ein einziger Band dem Typ A entspricht und alle anderen Werke den ausgewiesenen Typen lediglich ähnlich sind, aber nicht klar zugeordnet werden können.

Hofmann-Reiter verfolgt den zweiten empirischen Schwerpunkt anhand einer Interviewstudie (171-326), mit der sie Erkenntnisse "über die individuell entwickelten Zeitkonzepte bei Schüler/innen" (171) erarbeitet. In einer Querschnittuntersuchung werden die 25 Probandinnen und Probanden unter Zuhilfenahme eines Leitfadens in Einzelinterviews mit bis zu zehn Minuten Dauer befragt. Die 19 Einzelfragen fokussieren unter anderem Zeitkonzepte, Zeiteinteilung, Vorerfahrungen zum Erfahrungs- und Lernbereich Zeit aus der Grundschule. Ausgewertet werden die Interviewdaten anhand der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring. Hierzu beschreibt die Autorin die gewählte Methode umfassend. Die bezüglich der einzelnen Interviewfragen erarbeiteten Erkenntnisse werden nacheinander präsentiert; pro Frage wird jeweils kurz ein Bezug zu Ergebnissen der Schulbuchanalysen hergestellt.

Insgesamt stellt Hofmann-Reiter eine breite inhaltliche Streuung der Antworten ihrer Probandinnen und Probanden fest. Sie schlussfolgert aus ihren Ergebnissen, "dass von den Lehrpersonen im Grundschulbereich schwerpunktmäßig das allgemeine Zeitwissen gefördert [...], die Anbahnung von Geschichtsbewusstsein [...] jedoch vernachlässigt wird" (320). In Orientierung am Graduierungskonzept von Körber weist sie drei Niveaustufen "des Verfügens über das Konzept Zeit" aus (323), nach denen 52 Prozent ihrer Probandinnen und Probanden sich auf dem basalen Niveau bewegen, 28 Prozent auf dem mediären und 20 Prozent auf dem elaborierten. Die Kriterien, nach denen die Niveaustufen herausgearbeitet werden, lassen eine Spezifik bezogen auf das Konzept Zeit vermissen, wie folgend am Beispiel der Ausführungen zum mediären Niveau gezeigt wird: "sachgerechtes Argumentieren; Gelerntes kann wiedergegeben werden; allgemeine Aspekte werden erkannt; Denkansatz in Richtung soziale Ferne; Wahrnehmung und Systematisierung von Zeiterfahrungen möglich; gesellschaftlich üblicher Umgang mit Zeit möglich" (324).

Eine kurze Zusammenfassung mit Schlussfolgerungen schließt das Werk (327-332). Als Antwort auf ihre zentrale Fragestellung kann Hofmann-Reiter feststellen: "Das Konzept Zeit das [in Lehrwerken] vorausgesetzt wird, differiert beträchtlich von den Zeitkonzepten der Schüler/innen" (328). "So setzen die approbierten Schulbücher [...] ein bereits entwickeltes differenziertes formales Zeitkonzept voraus, das mit den individuellen Zeitkonzepten der Schüler/innen zumeist nicht kongruent ist" (329). Für die pragmatische Perspektive schlussfolgert Hofmann-Reiter, dass Lernstandserhebungen zu Beginn des Unterrichts in Geschichte und Sozialkunde / Politische Bildung unerlässlich seien.

Hofmann-Reiter betrachtet mit dem "Zeitverständnis" einen zentralen Aspekt des historischen Lernens in verschiedenen Perspektiven, die sie aufeinander bezieht. Mit dem gewählten Sample nimmt ihre Studie eine wichtige Phase des Übergangs von der Primarstufe zur Sekundarstufe in den Blick. In Anbetracht des Forschungsstandes hätte die Autorin vermutlich mehr Tiefe bezüglich der Ergebnisse ihrer zentralen Fragestellung erzielen können, wenn sie weiter zugespitzt und die Breite der Herangehensweise etwas reduziert hätte.

Rezension über:

Sabine Hofmann-Reiter: Zeitverständnis am Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe. Empirische Erkundungen der Geschichtsdidaktik (= Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte - Sozialkunde - Politische Bildung; Bd. 8), Innsbruck: StudienVerlag 2015, 342 S., ISBN 978-3-7065-5403-9, EUR 29,90

Rezension von:
Stefanie Zabold
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Zabold: Rezension von: Sabine Hofmann-Reiter: Zeitverständnis am Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe. Empirische Erkundungen der Geschichtsdidaktik, Innsbruck: StudienVerlag 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/05/27755.html


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