sehepunkte 17 (2017), Nr. 9

Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals / Francesca Weil (Hgg.): Von Stalingrad zur SBZ

1988 erschien "Von Stalingrad zur Währungsunion", eine Publikation des Instituts für Zeitgeschichte, die die Periode der Endphase des Krieges bis in die späten 1940er-Jahre als epochalen Einschnitt in den Blick nahm. Dies ist das Referenzprojekt des zu besprechenden Buches. Die Herausgeberin und die beiden Herausgeber verweisen darauf, dass vergleichbare Studien für den Bereich der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR fehlen, was angesichts vorhandener Länder- und Lokalstudien nicht ganz nachzuvollziehen ist.

Der Band versammelt 28 Beiträge und ist in drei Teile gegliedert: "I. Die nationalsozialistische Kriegsgesellschaft", "II. Besatzungsmacht und neue Herrschaft", "III. Gesellschaft im Umbruch". Wie wichtig die regionale und kommunale Ebene für das Verständnis der NS-Diktatur und ihre Funktionsweise ist, zeigen mehrere Beiträge. Das Beispiel Martin Mutschmanns, des "stiernackigen Provinzdespoten" (Mike Schmeitzner), steht für die Bedeutung der Gauleiter im NS-Herrschaftssystem. Mutschmann setzte gegen Widerstände noch in der Endphase des Regimes eine staatliche Neuordnung auf Landesebene (die "Gauregierung") durch. Dass die Diktatur gerade durch "Eigenmächtigkeiten" auf unterer Ebene funktionierte, zeigt Silke Schumann anhand der Einberufungs- und Arbeitskräftepolitik. Die von den jeweiligen Ämtern und Institutionen entwickelten "Selbstorganisationskräfte" waren "Teil des Verwaltungszusammenhangs, der die ungeheuren Verbrechen des NS-Regimes ermöglichte" (75).

Die sächsische Gesellschaft war in das NS-Regime umfassend eingebunden. Dies gilt für die sächsischen Unternehmen in der Kriegswirtschaft (Michael C. Schneider), deren Vertreter mitunter an der Selektion arbeitsfähiger Häftlinge in Auschwitz beteiligt waren. Mit der Ausweitung des Systems der KZ-Außenlager (Ulrich Fritz) gerieten diese Lager in das Blickfeld der Bevölkerung. Hilfen für Zwangsarbeiter durch Belegschaftsmitglieder sind aktenkundig, es überwog jedoch Tatenlosigkeit. Zu einem ähnlichen Befund kommt Martin Clemens Winter bei der Beschreibung der "Todesmärsche" in den letzten Wochen des Krieges. Diese Evakuierungsmaßnahmen bezogen die ländliche Bevölkerung aktiv mit ein, etwa bei der Bestattung der Leichen und der Unterbringung der Häftlinge. Es gab Hilfeleistungen, aber auch Hetzjagden auf geflohene Häftlinge. Die Bilanz der juristischen Ahndung dieser Endphasenverbrechen ist ernüchternd. Nur in wenigen Fällen wurden Urteile gesprochen.

All dies wirft ein Licht auf die Beschaffenheit der "Volksgemeinschaft" in dieser letzten Phase der NS-Diktatur. Eine Einordnung in die seit geraumer Zeit geführte Debatte um das Konzept "Volksgemeinschaft" erfolgt jedoch nicht. Dies wäre allerdings auch im Hinblick auf das folgende Ergebnis von Interesse: Während die Propagandaanstrengungen (Stephan Dehn) auf wenig Resonanz in der Gesellschaft stießen, suchte diese in Vergnügungen Ablenkung. Dies, so Francesca Weil ("Alltag der Kriegsgesellschaft"), habe letztlich auch zum "Funktionieren des NS-Regimes" beigetragen (115).

Den zweiten Teil eröffnen Beiträge von Nora Blumberg zur US-amerikanischen Besatzung am Beispiel Leipzigs sowie Gareth Pritchard zur zeitweilig unbesetzten Region um Schwarzenberg im Erzgebirge. Ab Juli 1945 war das gesamte Land Sachsen sowjetisch besetzt, die Rolle der Besatzungsmacht und die Entwicklung politischer Strukturen bilden deshalb einen Schwerpunkt. Drei Beiträge (Stephan Donth, Rainer Behring, Sebastian Rick) sind diesem Komplex gewidmet. Ihnen liegt die Vorstellung einer ab 1945 gezielt betriebenen Politik der "Diktaturdurchsetzung" zugrunde. Bereits zu dieser frühen Zeit seien, so Donth, die Grundlagen für die "allumfassende" Machtausübung der Kommunisten bis 1989 gelegt worden. In dieser Sicht verfügte die sowjetische Besatzungsmacht über ein klares politisches Konzept, eine Behauptung, die in der Forschung durchaus umstritten ist. Rainer Behring meint in seinem Beitrag zum "Personal der kommunistischen Diktaturdurchsetzung" anhand von Zitaten dreier Historiker (Hans-Ulrich Wehler, Peter Graf Kielmannsegg und Klaus Schroeder) einen Konsens in der Beurteilung der "kommunistischen Diktaturdurchsetzung" erkennen zu können. Der in Rede stehende "historische Abschnitt" erscheine "buchstäblich 'alternativlos'".

Sebastian Rick, der die "Diktaturdurchsetzung auf dem flachen Lande" untersucht, nimmt zwar Forschungen zur sowjetischen Besatzungspolitik wahr, die andere Interpretationsmöglichkeiten anbieten. Aber auch er nutzt nicht die sich auf dieser Ebene bietende Chance, politische Prozesse differenziert zu analysieren. Welche Hindernisse und Widerstände musste zum Beispiel die KPD in den eigenen Reihen überwinden? Anhand von zwei Beispielen skizziert Tilman Pohlmann politische Generationen und ihre Bedeutung für die Funktionärsebene der ersten SED-Kreissekretäre. Zwar dominierten bis 1952 Funktionäre der - nicht näher spezifizierten - beiden älteren Generationen der bis 1916 Geborenen: 89 Prozent gehörten diesen Generationen an. Aber auch 11 Prozent der von 1917 bis 1925 Geborenen rückten in diese Positionen ein. Diese Generation war vom Nationalsozialismus geprägt. Doch dies schränkte die kommunistische Herrschaftsetablierung nach 1945 nicht ein - im Gegenteil, die jüngeren Funktionäre begriffen die neue Aufgabe als Chance zur Neuorientierung. Anpassung und Loyalität waren die Folgen. Dass die Entnazifizierung als Instrument kommunistischer Machtpolitik praktiziert wurde, unterstreicht Clemens Vollnhals. Dies betraf auch das Ende der Entnazifizierung 1948, das die Integration der "kleinen Nazis" fördern sollte. Mit der Rehabilitierung ehemaliger NSDAP-Mitglieder wurde ein Schlussstrich unter die Frage nach Schuld und Verantwortung gezogen. Wie schwer diese wog, zeigt der Beitrag Jörg Osterlohs zum Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener im Lager in Zeithain: Dort waren im Sommer 1946 Massengräber mit etwa 140.000 Leichen gefunden worden - ein Verbrechen, für das die deutsche Wehrmacht verantwortlich war.

Oliver Kiechles Skizze über den Vizepräsidenten, dann Minister für Wirtschaft in Sachsen, Fritz Selbmann (KPD/SED) unterstreicht auch für die Phase der Besatzungszeit die Bedeutung der mittleren Ebene, die sich nicht nahtlos in hierarchische Konstruktionen einfügen lässt. Selbmann versuchte in der von vielfältigen, sich widersprechenden Interessen und Maßnahmen geprägten Nachkriegsphase, wirtschaftspolitische Zeichen zu setzen. Er bewies ein hohes Maß an Eigeninitiative und lancierte 1947 über die Parteihierarchie hinweg ein "Memorandum" nach Moskau, in dem er auf Missstände hinwies, deren Überwindung er anmahnte.

Im dritten Teil verweisen zwei Beiträge - Thomas Widera zu "Wohnungsnot und Schwarzmarkt" und Konstantin Hermann zu Jugendkriminalität und Jugendpolitik - auf das Aufweichen von "Rechtsempfinden" und moralischen Kategorien seit der Endphase des Krieges; Erscheinungen, die sich gerade in der oftmals vater- oder elternlosen Jugend bemerkbar machten.

André Steiners Befund aufgreifend, bei der DDR-Wirtschaft habe es sich um eine "Mischung von Sowjetisierungselementen" und der weiteren Nutzung deutscher Traditionen gehandelt, lotet Sven Steinberg die Frage aus, ob im Kontext der Transformation nach 1945 Entwicklungen "jenseits von Politik und Plan" zu entdecken seien. Anders als bei Großunternehmen der ehemaligen Rüstungsproduktion seien in mittleren und kleineren Unternehmen Kontinuitäten sichtbar. Ein Beispiel für "Eigen-Sinn" (nach Alf Lüdtke) liefert Sebastian Fink in seinem Beitrag zur Belegschaft der Riesaer Stahlwerke zwischen 1943 und 1949. In beiden Regimen entwickelte sie Strategien, die das Arbeiten möglichst erträglich machen sollten: "Arbeitsbummelei", hohe Krankenstände, vorzeitiges Beenden der Schicht. Politisch ließ sich die Belegschaft von der NSDAP nicht vereinnahmen, nach 1945 zeigte sich bei deutlich höheren Mitgliedszahlen der SED ein merkliches Nachlassen der politischen Aktivität. Lutz Vogels Aufsatz zu den Folgen der Bodenreform für den sächsischen Adel zeigt, dass sich bei einigen KPD-Ortsgruppen Widerstände gegen die Enteignung und Vertreibung von Gutsbesitzern regten. So wurden Bleiberechte oder die Zuweisung von Restgütern gefordert. Diese Befunde bestätigen Ergebnisse aus anderen SBZ-Ländern. Dies gilt ebenfalls für die von Sönke Friedreich und Ira Spieker präsentierten Fakten: Auch in Sachsen war der Zusammenhang zwischen Bodenreform und Zuweisung des Landes an Vertriebene ("Umsiedler") weniger bedeutsam als propagandistisch behauptet. Andererseits war es die jüngere Generation der "Umsiedler", die die in den 1950er-Jahren einsetzende Kollektivierung begrüßte, während sie von "alteingesessenen" Bauern abgelehnt wurde.

Die letzten Beiträge befassen sich mit der Minderheit der Sorben (Annett Bresan), der evangelischen Landeskirche (Gerhard Lindemann) und den jüdischen Gemeinden (Hendrik Niether). Die Sorben, im "Dritten Reich" unterdrückt, erlangten unter sowjetischer Besatzung Anerkennung als nationale Minderheit. Zum anderen sind Anpassung und Vereinnahmung erkennbar: Die "Domowina" als Interessenvertreterin geriet zum "Transmissionsriemen" der SED. Die Situation der sächsischen Juden ab 1938 und die schwierigen Bedingungen der jüdischen Überlebenden beim Wiederaufbau der Gemeinden ab 1945 beschreibt der abschließende Aufsatz - die Traumatisierungen, das fehlende Verständnis der politisch Verantwortlichen für die jüdischen Opfer, die mangelhafte Restitution sind Stichworte. Dazu kamen erneut einsetzende antisemitische Bestrebungen im Zuge von Schauprozessen in Osteuropa. Die Flucht jüdischer Gemeindemitglieder in den Westen zu Beginn der 1950er-Jahre war die Folge; die in der DDR Verbliebenen passten sich der politischen Linie des SED-Regimes an und überdauerten sein Ende 1989/90.

Der Band umfasst ein umfangreiches Spektrum; dennoch fällt das Fehlen zentraler Themen auf. Dies gilt insbesondere für die Rolle der Frau in der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft sowie für die Situation von Familien in dieser Phase. Das Thema der Zwangsmigration bleibt weitgehend ausgespart. Dies gilt für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter: Was wurde aus diesen "displaced persons" nach 1945? Dies gilt für die Vertriebenen, die zwar im Kontext der Bodenreform thematisiert werden, deren Situation jedoch nicht explizit untersucht wird. Schließlich: Welche Rolle spielten gesellschaftliche Organisationen in dieser Umbruchzeit, allen voran die wieder entstehenden Gewerkschaften? Die präsentierten Ergebnisse werden nicht oder nur unzureichend in vorhandene Debatten eingeordnet - so z.B. in die erwähnte "Volksgemeinschafts"-Kontroverse und in den nur in der Einleitung benannten "Eigen-Sinn"-Ansatz. Offene Fragen bleiben: Wofür steht Sachsen? Steht es als "Paradeland" (10) beispielhaft für die Entwicklung im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands? Wie verträgt sich eigentlich das Diktum von der gezielten Diktaturdurchsetzung mit den im Band geschilderten Kontinuitäten, tradierten Identitäten und "Eigen-Sinn"-Strategien in der Gesellschaft?

Rezension über:

Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals / Francesca Weil (Hgg.): Von Stalingrad zur SBZ. Sachsen 1943 bis 1949 (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 60), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 572 S., ISBN 978-3-525-36972-2, EUR 85,00

Rezension von:
Detlev Brunner
Leipzig
Empfohlene Zitierweise:
Detlev Brunner: Rezension von: Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals / Francesca Weil (Hgg.): Von Stalingrad zur SBZ. Sachsen 1943 bis 1949, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/09/28585.html


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