Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Marko Demantowsky, Basel / Brugg-Windisch


Artjom Wesjoly: Blut und Feuer. Aus dem Russischen on Thomas Reschke, Berlin 2017 (EA 1936).
Was für ein Text! Kein Roman, wie man ihn kennt. Ein rhapsodischer Zeitzeugen-Erzählungsmoloch, wie mit der Kelle aus dem brausenden Fluss geschöpft. Das Buch ist sprachgewaltig und bewundernswert übersetzt. Man lernt noch Deutsch dazu. Es beginnt im Frühjahr 1917 in den Schützengräben der kaiserlich-russischen Armee bei Trabzon, zeichnet die sich beschleunigende Auflösung aller staatlichen Ordnung nach; es wendet sich mit immer neuen Geschichten, Figuren, Situationen dem Nordkaukasus und dem Unterlauf der Wolga zu, schildert die Auflösung aller angestammten Ordnung in den Dörfern, zeigt die Alltagsgesichte der "Revolution" und des "Bürgerkriegs" voller eskalisierender Gewalt zwischen Roten, Weissen und Grünen und all den anderen marodierenden Gruppen und dann auch den "Kriegskommunismus" und hellsichtig die Macht der Tscheka; und es endet mit einer apokalyptischen Szene des Aufruhrs und des staatlichen Terrors auf dem Land, die wie ein Menetekel wirkt auf den Holodomor der 1930er Jahre. All das tritt dem Lesenden aber nicht als abstrakte Darstellung, sondern als ein multiperspektivisches Erzählgewebe entgegen, voller Menschen, Schicksale, Gebäude, Wetter, Gerüche, Geflüster und Geschrei. Was für ein schrecklicher Gesellschaftsuntergang. Man lernt: Ordnung wurde den Zeitgenossen zur Rettung, egal welcher Couleur.

Sun Tsu: Die Kunst des Krieges. Herausgeben und mit einem Vorwort von James Clavell, Hamburg 2016 (17. Aufl.).
"Die Kunst des Krieges" ist eine der ältesten und bedeutendsten Schriften der Menschheit, erstaunlich dann aber, wie wenige Geisteswissenschaftler_innen heutzutage sich mit dem "anderen Clausewitz" lesend vertraut gemacht haben. Der Titel wirkt auf uns natürlich merkwürdig antiquiert, warum sollte man sich heute auch mit der von einem Chinesen in grauer Vorzeit verfassten Kunst des Krieges beschäftigen? Dafür gibt es mehrere gute Gründe: Die 13, in kurze Erörterungen gegliederten und mit (in der Tradition nachträglich eingefügten) Beispiele aus der chinesischen Geschichte lesen sich flott und sind gut verständlich. Für historisch Interessierte ist es ein augenöffnendes Einmaleins der Kriegsorganisation und Konfliktaustragung im vorindustriellen Zeitalter oder in asymmetischen Konflikten. Darüber hinaus kann das Buch aber erweiternd analogisch verstanden werden - als eine Auslegeordnung klugen Handelns in institutionellen Konfliktsituationen des Alltags. So gelesen, ist es ausserordentlich anregend.
1782 wurde das schmale Buch erstmals, und zwar ins Französische übersetzt. Die Legende sagt, dass Napoleons strategisches Genie auf diesem Büchlein fusste.

August Ludwig von Schlözer: Vorbereitung zur WeltGeschichte für Kinder. Göttingen 2011 (EA 1779).
Das Missverständnis beginnt mit dem Titel, und zwar mehrfach. Denn es ist kein Kinderbuch, sondern vielmehr ein Buch, dass Privatlehrende (an staatlich gewährleisteten Geschichtsunterricht war 1779 ohnehin noch nicht zu denken) auf die Unterrichtung ihrer Schutzbefohlenen vorbereiten sollte. Es ist auch nicht ein Buch, sondern eigentlich deren zwei (das zweite von 1806), die sich im Anspruch steigern.
Als Geschichtsbuch ist es bis heute ein Solitär - eine kohärente Weltgeschichte ohne einen einzigen Herrschernamen, ohne die Nennung einer einzigen Schlacht, ohne Bezeichnung eines Staates. Stattdessen Anklänge von Big History, im Sinne einer Verknüpfung von Natur- und Menschengeschichte, aber vor allem Geschichte als Praxisfortschritt, und zwar in der Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen: des Webens oder des Feuermachens, aber auch der gesellschaftlichen Organisation. Es ist ein anti-rassistisches Buch, kosmopolitische Aufklärung in ihrer schönsten Blüte und daher - tagesaktuell. Das Buch liegt in einer liebvoll edierten Neuausgabe vor, inkl. erläuternder Texte, eines sehr ausführlichen Anmerkungsapparates, historischer Illustrationen und einer Bibliographie der von Schlözer herangezogenen Werke.

Dirk von Gehlen: Meta! Das Ende des Durchschnitts, Berlin 2017.
Ein erfrischendes Büchlein über den digitalen Wandel oder partiell eben längst die digitale Revolution unserer sozialen und technischen Umwelt. Ein Text, der in sich unterschiedliche Formate abwechslungsreich integriert und darüber hinaus über verschiedene Kanäle angeboten wird und damit praktisch einlöst, was Kern seiner Überlegungen ist: Dass nämlich diese vielen Zeitgenoss_innen nur ominöse Digitalisierung nicht per se des Teufels ist, sondern für alle gegenüber der Massenkonfektionskultur der Moderne grosse Gewinne bereithalten könne. Dieser Gewinn an Individualisierung beruhe dabei auf einer umfassenden Erschliessung unseres Lebens durch Metadaten, also digitale Kontextualisierungsstrukturen; jede/r kann das z.B. beobachten, wenn ihr/ihm über die Musikstreamingdienste vorgefertigte und doch sehr ansprechende individuelle Playlists angeboten werden. Die Schattenseite dieser Metadataisierung wird natürlich angesprochen: Die Welt begegnet uns individuell und doch algorithmisch extern vorgefertigt. Die Frage ist, gab es eine ähnliche Schattenseite der analogen Kulturen etwa nicht? Es kommt entsprechend für den Autor auf die Macht über die Algorithmen und Metadaten an, und damit wieder auf vertraute Fragen politischer und ökonomischer Interessen und Strukturen. Ein ausführliches Glossar hilft auch dem Laien, mit diesem Buch viel über die Gegenwart zu lernen.