sehepunkte 18 (2018), Nr. 4

Anita Prażmowska: Władysław Gomułka

Obwohl Biografien im klassischen Erzählstil gerade in Bezug auf die Geschichte Polens nie ihre wichtige Rolle eingebüßt haben, so haben Historikerinnen und Historiker um die Lebensläufe kommunistischer Funktionäre doch eher einen großen Bogen gemacht. Sieht man einmal von General Wojciech Jaruzelski ab, gibt es bis zum heutigen Tage für keinen der Generalsekretäre der PZPR unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten brauchbare Werke. Das galt auch und gerade im Falle Władysław Gomułkas auf besonders schmerzliche Weise. Die Arbeit Andrzej Werblans lebt zu sehr von der Nähe des Verfassers zur skizzierten Person, dessen enger Vertrauter er war. Von Maria Ewa Ożógs durchaus beachtlicher Publikation erschien 1989 nur der erste Band. Immerhin hat Paweł Machcewicz 1995 eine kurze biografische Skizze über Gomułka verfasst. Über 30 Jahre nach dem Tode Gomułkas hat sich Anita Prażmowska, Professorin für Geschichte an der London School of Economics und Autorin einiger Überblicksdarstellungen zur Zeitgeschichte Polens, aufgemacht, diese Lücke zu schließen. Die Arbeiten von Ożóg und Machcewicz verwendet sie dabei allerdings nicht.

Prażmowskas Buch wählt zwei Schwerpunkte, um der Person Gomułkas näherzukommen. Zum einen ist dies die Geschichte der kommunistischen Bewegung in Polen vor und nach 1945, zum anderen der Einfluss der Sowjetunion auf die Geschicke des westlichen Nachbarn. Dabei ist sie mit dem grundlegenden Problem konfrontiert, dass es fast gar kein Quellenmaterial zu Gomułka für die Zeit vor 1945 und allgemein wenig gibt, was eine Charakterisierung seiner Person möglich machen würde. Somit bleibt im Grunde nur die Einbettung seines Lebens in die jeweiligen politischen Umstände. Diese gelingt der Autorin auch souverän. Sie skizziert die Entwicklungslinien der polnischen Arbeiterbewegung vor dem Zweiten Weltkrieg, die Zerschlagung der KPP, den Kampf im Untergrund, die Auseinandersetzung der Machtzentren in Moskau und in Polen selbst, die Konflikte der unmittelbaren Nachkriegszeit und des Stalinismus sowie die Jahre von Gomułkas Herrschaft bis 1970. Fehler unterlaufen ihr dabei kaum, allerdings ließe sich über bestimmte Schwerpunktsetzungen und Einschätzungen kontrovers diskutieren. Wichtig und richtig ist es, die Rolle der sowjetischen Führer herauszuarbeiten. Gleiches gilt für die Bewertung der Krisenereignisse in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968. Blass bleibt dagegen die Beschreibung der innenpolitischen Konflikte nach 1956, wie überhaupt die Dichte der Schilderung gegen Ende des Buches nachlässt. Die Bedeutung des Todes des Journalisten Henryk Holland 1961 wird eher zu hoch bewertet.

Da die Autorin deutschsprachige Literatur nicht verwendet, fallen ihre Bewertungen zum für Gomułka so zentralen "deutschen Problem" eher vorsichtig aus und berücksichtigen nicht immer den aktuellen Stand der Forschung. Besonders gilt dies für die Geschichte des Bischofsbriefwechsels von 1965, wo sie neuere zentrale Arbeiten nicht kennt. Die von ihr angegebene Zahl der Opfer des Posener Aufstands von 1956 entspricht nicht den neuesten Erkenntnissen.

Das Problem bei dieser Herangehensweise ist jedoch, dass dem Leser die Person Gomułkas nicht wirklich verständlicher wird. Wir erfahren zwar einiges über seine privaten Vorlieben, seine allgemeine Abneigung gegenüber Intellektuellen im Allgemeinen und "Revisionisten" im Besonderen oder sein Verhältnis zur Sowjetunion. An keiner Stelle hat man aber den Eindruck, dem Verständnis dieser die Geschichte Polens nach 1945 so prägenden Figur näherzukommen. Prażmowska stützt sich sehr häufig auf die Erinnerungen seines Sohns Ryszard Strzelecki, ohne diese Quelle kritisch zu hinterfragen. Am stärksten ist ihre Darstellung, wo sie selten ausgewertetes Archivmaterial verwendet, etwa die Polizeiberichte der Zwischenkriegszeit, und wo sie Aspekte in den Vordergrund rückt, die ansonsten vernachlässigt werden, wie die Rolle von Gomułkas Ehefrau Zofia in den schwierigen Zeiten der Verfolgung vor 1939 und 1949-1956 oder die internen Berichte über das Verhalten des getrennt untergebrachten Ehepaars während der stalinistischen Haft. Der Blick in die Archive hätte insgesamt deutlich intensiver erfolgen können.

Man muss allerdings betonen, dass Prażmowska angesichts der Literaturlage oft kaum eine andere Wahl hatte, als auf immer die gleichen Materialien zurückzugreifen. Vermutlich hätte es aber geholfen, diese Texte stärker gegen den Strich zu bürsten und mehr Mut zu eigenen Positionen aufzubringen, als die Inhalte nur zu paraphrasieren. Wie man trotz fehlender Quellen eine interessante Biografie zu einer beinahe ebenso wichtigen Person der polnischen Zeitgeschichte, wenngleich aus journalistischer Perspektive, schreibt, zeigt Piotr Lipińskis neue Arbeit zu Gomułkas "ewigem Ministerpräsidenten" Józef Cyrankiewicz.

Auch wenn das vorliegende Buch sogleich ins Polnische übersetzt wurde, richtet es sich doch eindeutig vor allem an ein englischsprachiges Publikum, das mit den Ereignissen in Polen wenig bis gar nicht vertraut ist. Der polnische Leser wird darin kaum etwas Neues finden. Die Verdienste der Autorin, akribisch Material zusammengetragen und es angemessen präsentiert zu haben, werden dadurch nicht geschmälert. Auf eine spektakuläre, methodisch innovative Biografie des wichtigsten polnischen Politikers der kommunistischen Zeit müssen wir jedoch weiter warten.

Rezension über:

Anita Prażmowska: Władysław Gomułka. A Biography, London / New York: I.B.Tauris 2016, xvii + 296 S., ISBN 978-1-84885-133-7, GBP 85,00

Rezension von:
Markus Krzoska
Justus-Liebig-Universität, Gießen
Empfohlene Zitierweise:
Markus Krzoska: Rezension von: Anita Prażmowska: Władysław Gomułka. A Biography, London / New York: I.B.Tauris 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/04/31640.html


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