Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Mareike König, Paris


Birte Förster: 1919. Ein Kontinent erfindet sich neu, Ditzingen 2018.
Birte Förster erzählt in ihrem hervorragend geschriebenen Buch vom Jahr eins nach Kriegsende in Europa: von der Hoffnung auf Neuanfang und demokratischer Veränderung und zugleich von andauernden Auseinandersetzungen und neuer Gewalt. Sie schreibt von Frauen, die zum ersten Mal zur Wahl gehen können, von der "Neuerfindung Europas" in Paris mit den Friedensverhandlungen, der Gründung des Völkerbundes und der Gründung der internationalen Arbeiterorganisation. Aber neue Staaten führen auch zu neuen Kriegen und es gibt Gewalt im Baltikum, blutige Kämpfe in Irland und Krieg zwischen Griechenland und der Türkei. Es ist eine Geschichte mit offenem Ende und eine Geschichte, die konkurrierende und widersprüchliche Sichtweisen gekonnt in den Blick nimmt und damit dem Jahr 1919 in Europa seine Komplexität zurückgibt.

Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs. Aus dem Französischen von Jörn Etzold in Zusammenarbeit mit Alf Lüdke, Göttingen 2011 (Le goût de l'archive, Paris 1989).
Das Buch, in Frankreich 1989 erschienen und dort ein Klassiker der Geschichtswissenschaft, macht schon auf den ersten Seiten Lust, ins Archiv zu gehen. Arlette Farge beschreibt die Materialität des Archivs mit einem vorwiegend maritimen Vokabular, ein Archiv, in das man eintauchen mag und in dem man mit "unvorhersehbaren Fluten" konfrontiert wird. Ein Archiv aber auch, das man sich körperlich aneignet, durch die Reise dahin und durch die eigenen ritualisierten Praktiken: vom Lieblingsplatz über den Arbeitsrhythmus bis hin zu Pausen, die man mit anderen Forschenden verbringt. Dabei provozieren die Quellen einen "Effekt des Wirklichen", den kein Druckwerk so hervorrufen kann. Die neuerliche Lektüre des Bandes lohnt, denn er lädt zur Reflexion über unsere Praktiken und über die Arbeit mit digitalisierten Quellen ein, worüber auch im französischen Online-Publikationsprojekt zum "Geschmack des Archivs im digitalen Zeitalter" gerade diskutiert wird: http://www.gout-numerique.net/.

Mary Beard: Frauen & Macht. Aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister, Frankfurt a. M. 2018 (Women & Power, London 2017).
Die britische Althistorikerin und Beststellerautorin hat in diesem rund 100seitigen Manifest zwei ihrer Vorträge versammelt: Im ersten geht es um die "öffentliche Stimme von Frauen" und darum, wie Frauen seit der Antike zum Schweigen gebracht werden oder von sich aus schweigen, war öffentliche Rede doch "das konstitutive Attribut der Männlichkeit". Der zweite Vortrag knüpft nahtlos daran an und widmet sich den zahllosen Verunglimpfungen, denen machtvolle Frauen - vor allem Politikerinnen - ausgesetzt sind und den kulturellen Stereotypen, die diesen abwertenden Darstellungen zugrunde liegen. Das liest sich kämpferisch und humorvoll, ganz ohne zu jammern, macht nachdenklich und zugleich Mut, das Wort zu ergreifen, da nur so eine Teilhabe von Frauen an der Macht möglich ist.

Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. Aus dem Französischen von Nicola Denis, Berlin 2018 (La disparition de Josef Mengele, Paris 2017).
Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, entkam 1949 nach Südamerika, wo er dreißig Jahre lang lebte, zunächst unbehelligt im Argentinien der Peron-Zeit, dann auf der Flucht zurückgezogen in Paraguay und Brasilien. Anders als Eichmann wurde Mengele nie gefasst und für seine grausamen Menschenversuche und unzähligen Morde nicht zur Rechenschaft gezogen. Olivier Guez zeichnet in diesem Doku-Roman anhand von Zeitzeugenberichten und den Aufzeichnungen von Mengele das Bild eines skrupellosen und unverbesserlichen Mannes, der auf seiner Flucht immer stärker isoliert in Paranoia, Krankheit und Selbstmitleid abrutscht. Guez, der am Drehbuch für den Film "Der Staat gegen Fritz Bauer" mitgeschrieben hat, gelingt der schwierige Balanceakt, Mengele durch die Darstellung seines Innenlebens zugleich nahe zu kommen, ohne jedoch Mitgefühl oder Faszination auszulösen. In Frankreich 2017 zu recht mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet.

Christiane Frohmann: Präraffaelitische Girls erklären das Internet, Berlin 2018.
Was tun, wenn man noch einen Lektüretipp braucht? Richtig, man fragt die Kolleginnen und Kollegen auf Twitter nach ihrem Lieblingsgeschichtsbuch 2018 von einer Historikerin. Danach hatte ich allerdings die Qual der Wahl zwischen rund 25 hochklassigen Publikationen. Wenn ich mich für dieses knapp 150seitige Buch entschieden habe, dann, weil es intelligent, witzig, feministisch und grafisch ansprechend gemacht ist und damit ein wirklich gutes Geschenk abgibt. Christiane Frohmann gibt Gemäldeausschnitten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Frauen entrückt und zumeist leichenblass-seelenlos zeigen, mit kurzen Tweet-Aphorismen zum Verhalten im Internet einen zeitgenössischen Sinn. Mit diesem Remix ironisiert sie beides zugleich. Vor allem aber erhalten die präraffaelitischen Girls über das Reflektieren des eigenen Tuns ihre Souveränität zurück. Twitterstorians werden sich über dieses Geschenk auf jeden Fall freuen.