Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Roland Wenzlhuemer, München


Stephen Hawking: Kurze Fragen auf große Antworten, Stuttgart 2018.
Kurze Antworten auf große Fragen, das nach dem Tod Stephen Hawkings im März 2018 (offensichtlich eilig) aus einzelnen Texten des Verstorbenen zusammengestellt wurde, ist in vielerlei Hinsicht eine Zumutung. Das haben auch andere Rezensenten bereits festgehalten - z.B. Ulf von Rauchhaupt, der in der F.A.Z. vom 16.10.2018 von einem "großen Murks" spricht, oder Burkhard Müller, der in der S.Z. vom selben Tag in Hawkings Buch einen "triumphalen Szientismus ohne Besinnung" sieht. Dem könnte man noch einiges hinzufügen - z. B. dass von der Bescheidenheit, die Hawkings Tochter Lucy ihrem Vater im Nachwort attestiert, in den Texten selbst nichts zu spüren ist. Aber das gehört vielleicht zu den Privilegien von Jahrhundertwissenschaftlern. Und damit kommen wir zur Frage, warum ich dieses Buch zumindest Historikerinnen und Historikern dennoch ans Herz legen möchte. Ich denke, man kann getrost davon ausgehen, dass diese Leserschaft relativ mühelos die zahllosen unausgesprochenen Vorannahmen und Setzungen erkennen kann, auf deren Basis der Autor seine Argumentation entfaltet. Während viele der "kurzen Antworten" dadurch ihr Erklärungspotenzial verlieren, offenbart sich darunter ein faszinierender Blick auf das Universum und die menschliche Existenz, den Hawking wie kaum ein anderer in (halbwegs) verständliche Worte fassen konnte. Für Historikerinnen und Historiker, die sich hauptamtlich vor allem mit der conditio humana beschäftigen, kann das eine wertvolle Kontextualisierung ihres Themas sein, denke ich. Daher eine Leseempfehlung, aber mit Vorbehalt.

Fred Hoyle: The Black Cloud, London 1957.
Besonders unangebracht finde ich übrigens eine Passage, in der Hawking zwei Kollegen mit einem Schlag beschädigt. Er erzählt von seinem Studienbeginn in Cambridge im Oktober 1962. Hawking schreibt, er hätte gerne beim bekannten Astronomen Fred Hoyle studiert, wäre dann aber zu seiner großen Enttäuschung Dennis Sciama, von dem er noch nie gehört hätte, als Student zugeteilt worden. "Doch es war gut so, denn als Student von Hoyle wäre ich gezwungen gewesen, seine Steady-State-Theorie zu verteidigen, eine Aufgabe, die schwerer gewesen wäre, als den Brexit zu verhandeln." (S. 33) Während ich nichts Qualifiziertes zur Steady-State-Theorie sagen kann, so darf ich an dieser Stelle aber auf Hoyles schriftstellerische Qualitäten hinweisen. Sein 1957 erschienener Roman The Black Cloud ist ein Klassiker der science fiction. Er erzählt eindringlich und realistisch von einer riesigen Gaswolke, die sich im All auf die Erde zubewegt und sich als intelligentes Lebewesen herausstellt. Interessant daran ist nicht nur, wie Hoyle die damals aktuellen Erkenntnisse und Theorien der Astrophysik in seinen wunderbar erzählten Roman eingeflochten hat, sondern vor allem auch welches Verhalten er den Menschen angesichts der echten oder gefühlten Bedrohung zutraute. Hoyle scheint mit Hawking zumindest den Glauben daran gemeinsam gehabt zu haben, dass Wissenschaftler die besseren Menschen wären. Eine unbedingte Leseempfehlung für The Dark Cloud von Fred Hoyle.

Neal Stephenson: Seveneves, London 2015.
Ich bleibe für einen Moment bei der science fiction. Normalerweise sollte man keine Bücher empfehlen (oder rezensieren), die man noch nicht ganz gelesen hat (was natürlich nicht heißt, dass diese zweifelhafte Praxis nicht relativ weit verbreitet ist). Ich bekenne mich an dieser Stelle dazu, das hier empfohlene Seveneves von Neal Stephenson noch nicht ganz geschafft zu haben. Das hat einerseits mit dem mit 880 Seiten beträchtlichen Umfang des Buches zu tun. Es liegt aber auch daran, dass ich von diesem Buch öfter einmal eine Pause brauche. Dieses Buch nimmt einen mit - im doppelten Wortsinn. Der begnadete hard scifi-Autor Stephenson entwirft darin ein schauriges, zunächst in der Jetztzeit angesiedeltes Ausgangsszenario. Aus heiterem Himmel zerbirst der Mond in mehrere große Teile, die fortan die Erde umkreisen, immer wieder miteinander kollidieren und in immer kleinere Stücke zerbrechen. Astronomen berechnen, dass sich so innerhalb von zwei Jahren Millionen Gesteinsbrocken bilden würden, die schließlich auf die Erde herunterregnen und alles irdische Leben auslöschen würden. Stephenson erklärt dieses Szenario wissenschaftlich schlüssig, allerdings auch so überladen mit physikalischen Details, dass man die eine oder andere Stelle auch mal überblättern darf. Was bleibt ist die Erkenntnis für die Menschheit, dass maximal zwei Jahre bleiben, um ihr Erbe zu regeln. Die Erdregierungen werfen in dieser Zeit lang alle verfügbaren Ressourcen in den Ausbau der International Space Station (ISS), um so dafür zu sorgen, dass zumindest ein minimer Teil der menschlichen Kultur überdauern kann. Stephenson nutzt dieses ultimativ prekäre Szenario dazu, den Kern des Menschseins selbst bloß zu legen. Soviel sei verraten, die Menschheit kommt dabei nicht besonders gut weg. Das Überleben der Menschheit wird ständig durch Eitelkeit, Regelbruch, Vorteilssuche und Gewaltausbrüche gefährdet. Die Erzählung ist hier so intensiv und aufwühlend, weil sie so realistisch ist. Wie das bei guter science fiction üblich ist, nutzt Neal Stephenson sein literarisches Labor zur Untersuchung des Menschseins. Ein absolut empfehlenswertes Buch für alle, die sich von den Untersuchungsergebnissen nicht schrecken lassen.

Marti Noxon / Sarah Gertrude Shapiro (Idee): UnREAL, Fernsehserie, 2015-2018.
Es gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten von Historikerinnen und Historiker im Umgang mit ihren Quellen auch immer nach Schein und Sein zu fragen. Wie möchte ein Text oder Artefakt gerne gelesen werden und welche tatsächlichen Entstehungskontexte sollen möglichst nicht gesehen werden? Es ist die Angewohnheit, diese Art von Fragen vom Quellenstudium auf praktisch alle anderen (vorzugsweise außerakademischen) Lebensbereiche zu übertragen, die unsere Lebenspartner und Freundeskreise immer wieder auf eine harte Probe stellt. So ist es beispielsweise kaum möglich, mit Historikerinnen oder Historikern einfach nur fernzusehen, ohne dass diese ständig über die Produktionsbedingungen, kulturellen Codes oder Metabotschaften hinter dem Bild auf dem Schirm referieren. UnREAL ist die Serie für all jene, die entweder habituell ein solches Verhalten an den Tag legen oder darunter leiden müssen. Man stelle sich vor, mitten in einer Folge von Der Bachelor (oder einem beliebigen anderen Reality-TV-Format) würde die Kamera plötzlich herauszoomen und das gesamte Set um die gezeigten Aufnahmen herum enthüllen. Das ist das Setting von UnREAL. Die amerikanische Fernsehserie dreht sich um das Produktionsteam der fiktiven Show Everlasting, einer besonders zugespitzten Variante des Bachelor-Formats. Hauptfigur ist die psychisch schwer angeschlagene Producerin Rachel (Shiri Appleby). Früher wollte Rachel Gutes tun und - im ironisierten O-Ton der Serie - "Babys in Afrika retten". Heute verdient sie ihr Geld damit, die Teilnehmer an Everlasting so zu manipulieren, dass diese fernsehtaugliches Drama liefern. Auf der Jagd nach immer neuen dramatischen Höhepunkten überschreitet Rachel dabei eine moralische Grenze nach der anderen. Während einige in der Serie gezeigten Machenschaften auch selbst Produkte einer dramatischen Zuspitzung sind - es wird nicht nur manipuliert und intrigiert, sondern auch gestorben und gemordet -, so fällt es nicht schwer, in UnREAL die Produktionsrealität vieler aktueller Medieninhalte zu erkennen. Immerhin basiert das Serienkonzept auf den Erfahrungen der Filmemacherin Sarah Gertrude Shapiro, die selbst als Producerin beim amerikanischen The Bachelor gearbeitet hat.

Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste, Berlin 2018.
Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde, Hamburg 2009.

Das Beste an Verzeichnis einiger Verluste, einem insgesamt großartigen Buch, ist sein Titel. Sachlich und präzise hält er fest, worüber Judith Schalansky in zwölf Episoden schreibt: die Vergänglichkeit von Menschen, Dingen, Ideen. Das Werden und Vergehen alles Irdischen. Die Frage, ob das Irdische alles ist. Große Fragen, ohne kurze Antworten. Große Fragen, die durch den buchhalterischen Titel und Schalanskys Art zu schreiben - die auf einem ganz speziellen Grat zwischen stream of consciousness und messerscharfer Satzpräzision wandelt - eine Beiläufigkeit bekommen, die ihnen guttut. Schalansky schreibt über Vergangenes, das sie nicht nur als vergangen, sondern auch als verloren empfindet. "Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar gemacht werden." So heißt es am Ende des Vorwortes, das eigentlich weniger ein Vorwort ist denn eine sehr kluge geschichtstheoretische Erörterung. Es sollte Einzug in die Literaturlisten geschichtswissenschaftlicher Proseminare nehmen. Das wäre auch abermaliger Nachweis dafür, dass man tiefe theoretische Einsichten auch auf ästhetisch ansprechende Weise vermitteln kann. Schalansky ist Buchgestalterin. Sie bedient sich nicht nur einer faszinierenden Sprache, sondern illustriert und gestaltet ihre Bücher selbst. Das sieht man in Verzeichnis einiger Verluste. Ganz besonders deutlich wird es aber ihrem Atlas der abgelegenen Inseln. In diesem bezaubernd gestalteten Buch nimmt Schalansky den Leser mit auf island hopping der besonderen Art, einen wunderbaren Ausflug in entlegene Regionen und vergangene Zeiten. Ich danke dem lieben Münchner Kollegen, dem ich diese Lektüre verdanke, und lege Sie Ihnen, liebe Leser, gerne ebenfalls ans Herz.