sehepunkte 19 (2019), Nr. 2

Jann Müller: Die Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Industrie- und Handelskammern (IHKn) und ihrer Rolle während der Wiedervereinigung scheint auf den ersten Blick ein reines Spezialisten-Thema zu sein. Dieser Eindruck täuscht jedoch gleich aus mehreren Gründen: In ihrer traditionellen Doppelrolle als Interessenvertretung der gewerblichen Wirtschaft und staatliche Aufgabenträger eignen sich die IHKn als analytische Sonde zur Erfassung gesellschaftlichen Wandels und bieten gerade vor dem Hintergrund der ostdeutschen Erfahrungswelten Anfang der 1990er Jahre die Möglichkeit, unseren Blick zu schärfen und unsere Perspektive zu erweitern. Beides unternimmt der Autor in seiner Bonner Dissertation.

Jann Müller betrachtet Ostdeutschland 1989/90 nicht als unternehmerisches Nirwana und liefert im ersten Teil des Buches den historischen Hintergrund zur Evolution des Unternehmertums in der SBZ und späteren DDR. Der besondere Wert dieser Darstellung liegt darin, die Kontinuitäten aufzuzeigen, da sich trotz staatlicher Repression und mehrerer Nationalisierungskampagnen - die letzte erfolgte 1972 - das ostdeutsche Unternehmertum in Anbetracht der Umstände als erstaunlich resilient erwies. Häufig fanden - so der Autor - die ehemaligen Unternehmer auch im Falle ihrer Enteignung eine Weiterbeschäftigung als Geschäftsführer in ihren ehemaligen Betrieben. Müller beschreibt, wie die SED-Führung bereits ab Mitte der 1970er Jahre ihre Politik zaghaft änderte und eine Ausweitung vor allem privater Dienstleistungsbetriebe in dem Maße zuließ, in dem die Versorgungskrise zunahm. Dies führte in den 1980er Jahren erstmals seit Gründung der DDR zu einer leichten Zunahme des Anteils der Privatwirtschaft an der Wirtschaftsleistung.

Zu den noch in der Honecker-Zeit ergriffenen Maßnahmen gehörte auch die Umbenennung der IHKn in Handels- und Gewerbekammern, was mit einer leichten Aufwertung ihrer bis dato stark marginalisierten Rolle einherging. Gesetzesänderungen der 1980er Jahre ermöglichten - auch dies ein Novum - Privatisierungen im Dienstleistungsbereich. Dies verdeutlicht - zusammen mit den mehreren tausend Handwerksbetrieben, die 1972 nicht enteignet worden waren - das in Ansätzen vorhandene unternehmerische Potential, das sich im Herbst 1989 in der DDR zu regen begann. Der Autor analysiert, wie die verbliebenen Privatunternehmer und ehemals enteigneten Unternehmer 1989/90 ihre Interessen zu vertreten suchten und sich die wiedergegründeten IHKn noch vor der politischen Wiedervereinigung mit ihren westdeutschen Pendants zusammenschlossen.

Hier fingen die Probleme jedoch erst an, und ein wesentliches Verdienst der Arbeit von Jann Müller liegt darin, über das Aktenmaterial der IHKn einen bedeutenden Teil des sich im wiedervereinigten Staat neu formierenden ostdeutschen Unternehmertums sichtbar zu machen. Er legt den Fokus somit auf eine numerisch zwar überschaubare, für das Funktionieren einer Marktwirtschaft aber zentrale gesellschaftliche Gruppe: den gewerblichen Mittelstand. Dies trägt dazu bei, die Perspektive auf die Transformation in Ostdeutschland zu erweitern, die allzu leicht als Konflikt zwischen Ost und West oder, wie im Fall des Kali-Bergwerks in Bischofferode, zwischen den Interessen von Arbeit und Kapital erscheint.

Der Autor zeigt anhand der IHKn die Komplexität von Konkurrenz und Kooperation, die sich Anfang der 1990er Jahre zwischen ost- und westdeutschen Unternehmern ergab. Als Interessenvertretung der gewerblichen Wirtschaft gehörte es zu deren Aufgaben, die regionale Standortpolitik zu beeinflussen. Hierbei richtete sich die Kritik u.a. gegen eine zu freie Vergabe von Baugenehmigungen für Shoppingcenter nach westlichem Vorbild und gegen Mietpreise in den ostdeutschen Innenstädten, die - wie in Leipzig - rasch das Hamburger Niveau erreichten, ohne dass dem eine entsprechend zahlungskräftige Kundschaft gegenübergestanden hätte. Dies - so die Befürchtung vieler ostdeutscher IHK-Vertreter - benachteilige den regionalen Mittelstand und begünstige große Handelskonzerne.

Die IHKn versuchten, über den Deutschen Industrie- und Handelskammertag auch Einfluss auf die Treuhandanstalt zu nehmen und sie zu einer mittelstandsfreundlichen Privatisierungspolitik zu bewegen. Zudem konnten sie als Transmissionsriemen zwischen den einzelnen Niederlassungen der Treuhandanstalt und der gewerblichen Wirtschaft fungieren. Einzelne IHKn - wie die IHK Erfurt - richteten Foren für "Reprivatisierer" ein, in denen die 1972 enteigneten Unternehmer sich über ihre Erfahrung mit der Treuhand austauschen und Kritik an der aus ihrer Sicht schleppenden Reprivatisierung äußern konnten.

Kritik an der Treuhandanstalt wurde von den ostdeutschen Unternehmern reichlich geäußert. Diese betraf nicht nur die Reprivatisierung, sondern auch den Umgang mit sogenannten Altschulden und das zumindest subjektiv empfundene Desinteresse am Aufbau mittelständischer Strukturen in Ostdeutschland. Einzelne PR-Aktionen von Vertretern der Treuhandanstalt schürten eher das Misstrauen als dass sie verlorenes Vertrauen wiederaufbauen konnten. Auch der Verkauf einzelner Betriebsteile an ehemalige leitende Angestellte - genannt Management Buy-Out und gepriesen als Wundermittel zum Aufbau eines ostdeutschen Mittelstandes - erschien selbst den Betroffenen als ein von den Treuhand-Managern nur widerwillig genutztes Instrument.

Neben der Kritik der Kammern an der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland erwähnt Jann Müller auch Initiativen zur Selbsthilfe, die aus dem Kammersystem heraus entstanden. Er konzentriert sich hier vor allem auf das "Patenschaftsprogramm für den Mittelstand". Erfahrene westdeutsche Unternehmer wurden an ostdeutsche Mittelständler "ausgeliehen", die sich in wirtschaftlicher Schieflage befanden, um durch die Weitergabe ihres Wissens und die Nutzung ihres Netzwerks das Überleben des betreffenden Betriebs zu sichern. Auch wenn ein solches Patenschaftsprogramm stets nur partiell wirken konnte, stieß es bei ostdeutschen Unternehmern, denen es häufig an westlichem Management Know-how mangelte, auf große Resonanz.

Der Autor begeht in seiner Erzählung nicht den Fehler, eine Institutionengeschichte voller Harmonie zu schreiben. Er betont bei allem Willen zur Kooperation auch die Konflikte zwischen den Akteuren und konzentriert sich dabei auf die Präsidenten der IHK Rostock und IHK Erfurt. Aus Sicht vieler ostdeutscher Unternehmer wurden sie von den Banken gegenüber westdeutschen Konkurrenten diskriminiert, mussten mehr Sicherheiten hinterlegen und höhere Zinsen zahlen. Versuche, die ostdeutsche Wirtschaft über eine verbandsinterne Selbstverpflichtung zu fördern, scheiterten. Bestes Beispiel hierfür ist die "Einkaufsoffensive Ost", die von ostdeutschen Unternehmern mehrheitlich als reine PR-Aktion charakterisiert wurde. Besonders der Erfurter IHK-Präsident mahnte, dass manche westdeutsche Unternehmer die Notsituation ihrer ostdeutschen Kollegen ausnutzten. So seien thüringische Fleischfabrikanten von westdeutschen Handelsketten genötigt worden, ihre Ware mit deutlichem Abschlag gegenüber der westdeutschen Konkurrenz zu verkaufen, um in das Sortiment aufgenommen zu werden, und dies bei gleicher Qualität der Ware.

Dies zeigt auch die Grenzen der Selbstorganisation der Wirtschaft: Die IHKn konnten in begrenztem Umfang einen Know-how-Transfer organisieren und ostdeutschen Unternehmern eine Plattform bieten, Wünsche und Forderungen zu artikulieren, an den harten Fakten wie dem Mangel an Eigenkapital und Liquidität im ostdeutschen Mittelstand konnten sie nichts ändern. Auch stieß die Selbsthilfe der Wirtschaft dort an ihre Grenzen, wo etablierte Unternehmer ihr eigenes Geschäft im Nachteil sahen.

Insgesamt hat Jann Müller ein sehr lesenswertes Buch vorgelegt, das in den Forschungsdebatten der kommenden Jahre zur neuesten deutschen Zeitgeschichte eine Rolle spielen wird. Wünschenswert wäre höchstens, die bereits bestehenden Stärken des Buches weiter zu akzentuieren. Das Archivmaterial des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs in Köln scheint - wenig überraschend - eine westdeutsche Schlagseite in seinen Beständen zu haben. Diese Kante durch den verstärkten Einsatz von Interviews mit ostdeutschen Akteuren - sowohl aus der Funktionärs- als auch Mitgliederebene der IHKn - zu glätten, hätte die sehr gute Arbeit abgerundet.

Rezension über:

Jann Müller: Die Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Bd. 239), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017, 284 S., ISBN 978-3-515-11565-0, EUR 52,00

Rezension von:
Max Trecker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Max Trecker: Rezension von: Jann Müller: Die Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern in Ostdeutschland im Prozess der Wiedervereinigung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 2 [15.02.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/02/30998.html


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