Rezension über:

Annette Mertens (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VII. Reihe. Band 1: 1. Oktober 1982 bis 31. Dezember 1984, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, CIV + 1008 S., 37 Farbabb., ISBN 978-3-11-057117-2, EUR 99,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Bernd Rother
Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Bernd Rother: Rezension von: Annette Mertens (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VII. Reihe. Band 1: 1. Oktober 1982 bis 31. Dezember 1984, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 3 [15.03.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/03/32369.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Annette Mertens (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VII. Reihe

Textgröße: A A A

Das ungleiche und unerwartete Paar Erich Honecker und Franz Josef Strauß, ergänzt um Alexander Schalck-Golodkowski, prägt diesen Band der "Dokumente zur Deutschlandpolitik" (DzD). Im Zentrum stehen der "Milliardenkredit" an die DDR und Honeckers geplanter Besuch in der Bundesrepublik, der (vorerst) am Veto der Sowjetunion scheiterte.

Wichtiges war bereits zuvor bekannt und gedruckt, aufgrund der Öffnung der DDR-Archive. Wer hoffte, im neuen Band der DzD die parallele bundesdeutsche Überlieferung in ähnlicher Qualität nachlesen zu können, wird dieselbe herbe Enttäuschung erleben wie zuvor die Editoren des Bandes. Den schwerwiegenden Mangel, der hauptsächlich die Vorgänge um die Gewährung des Kredites an die DDR betrifft, haben nicht sie zu verantworten, sondern staatliche Stellen der Bundesrepublik. Dies macht die Einleitung eindringlich deutlich. Es fehlen "Akten aus der Zeit [Philipp] Jenningers als Staatsminister im Bundeskanzleramt [Oktober 1982 bis November 1984] und der Zugang zu dem in der Bayerischen Staatskanzlei entstandenen Schriftgut [blieb] unmöglich." (VII) Im Klartext: Im Bundeskanzleramt wurden entweder Schriftstücke wie Notizen zur Gesprächsvorbereitung oder Briefentwürfe erst gar nicht zu den Akten genommen bzw. später vernichtet, und die Bayerische Staatskanzlei verwehrte den Editoren den Zugang zu "unzweifelhaft" (XXV) existierenden Akten. Rechtsbruch das eine, ein geschichtspolitischer Skandal das andere. Einige Lücken konnten durch Kopien gefüllt werden, die einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Verfügung gestellt worden waren und heute im Bundesarchiv liegen.

"Zum großen Teil im Verborgenen"(XXIV) bleiben somit die Haltung des Bundeskanzlers in der Frage des Kredites und die Kommunikation zwischen Kohl und Strauß. Immerhin fand ein Schriftstück aus der "Sammlung Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl, Ludwigshafen" als Dokument 95 Eingang in die Edition, das angesichts der Querelen um den Nachlass des Bundeskanzlers von besonderem Interesse ist. Seine Witwe erklärte Presseberichten zufolge im März 2018 gegenüber dem Bundeskanzleramt, es befinde sich kein amtliches Schriftstück in Oggersheim. "Amtlich" im engeren Sinne ist die abgedruckte Quelle tatsächlich nicht: "Dein FJ Strauß" schrieb handschriftlich an den "Liebe[n] Helmut"; Kohl verfügte: "Privatakte!". Privat im Sinne von persönlich war der Inhalt aber kaum zu nennen, höchstens Straußens Klage: "Es wird immer schwerer, mit Dir Verbindung zu halten [...]." (373) Mit dem Brief übermittelte der bayerische Ministerpräsident dem Bundeskanzler eine Botschaft der DDR-Führung (Dok. 94 der Edition), in der es um die Gegenleistungen für die Kreditgewährung ging (u.a. den Abbau der Selbstschussanlagen). Kohls Verfügung dürfte daher dem Inhalt, nicht der Form geschuldet gewesen sein. Regierungshandeln betraf der Brief allemal.

Im November 1983 berichtete der "Spiegel", Strauß habe mit Schalck-Golodkowski über einen weiteren Milliardenkredit gesprochen. Der Bayer fragte Jenninger, woher die Indiskretionen stammten. Als der Staatsminister für seine Person die Weitergabe von Informationen verneinte, erklärte Strauß, "daß dann nur der Bundeskanzler oder seine Umgebung [...] in Betracht kämen" (435).

Immer wieder war auch die neue Postpauschale ab 1984 Thema der Kontakte zwischen den Regierungen in Bonn und Ost-Berlin und der Gespräche von Strauß mit Schalck-Golodkowski. Auf der verzweifelten Suche nach Devisen forderte die DDR 430 Mio. statt bisher 85 Mio. DM. Die Bundesregierung weigerte sich, so viel zu zahlen, u.a. wegen einer im internationalen Vergleich ungewöhnlich hohen Quote an Sendungsverlusten. Franz Josef Strauß erwies sich als engagierter Anwalt der DDR-Interessen. In Gegenwart von Schalck-Golodkowski kanzelte er Jenninger ab, dessen Argumente er für intellektuell dürftig erklärte. Wiederholt mahnte Strauß an, die Bundesregierung müsse der DDR entgegenkommen. Glaubt man Schalck-Golodkowski, dann erklärte Strauß, "daß er sich hinter das Angebot der DDR mit seiner ganzen Person stellt" (387). Demselben Bericht zufolge attestierte Strauß dem "Bundeskanzler [...] utopische Vorstellungen", es fehle Kohl "realistischer Sinn für politische Möglichkeiten" (384). Mangels zugänglicher bundesdeutscher Überlieferung wird vermutlich hier die DDR-Sicht künftige Darstellungen prägen. Den Kohl-Gefährten Waldemar Schreckenberger, Chef des Kanzleramts, bezeichnete Strauß laut seinem DDR-Gegenüber als "völlig unbefähigt", den CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep als "eine Null" (439). Mit diesen Äußerungen stand Strauß Herbert Wehners Ausfällen über die SPD-Führung im Gespräch mit dem Ständigen Vertreter der DDR in Bonn, Ewald Moldt, im Februar 1981 in nichts nach (DzD, VI. Reihe, Bd. 7, 53).

Die beiden Reisen von Honecker zu KPdSU-Generalsekretär Tschernenko im Juni und im August 1984 in Sachen Bonn-Besuch sind schon durch frühere Editionen dokumentiert. Aber natürlich gehören diese Aufzeichnungen in einen Band der DzD, der die Breite der Deutschlandpolitik dokumentieren muss. Besonders das Treffen im August ist die erneute Lektüre wert. Die Atmosphäre zwischen den beiden Delegationen war kaum freundlicher als das, was man sich heute für Treffen der Bundeskanzlerin mit dem US-Präsidenten vorstellen mag. Das Gespräch verlief in angespannter Atmosphäre. So sagte Honecker zu Verteidigungsminister Ustinov: "Sie können sich weitere Bemerkungen dazu ersparen." (784) Zuvor hatte der Staatsratsvorsitzende die Position der DDR-Führung in extenso vorgetragen. Am Ende seines einleitenden Statements erklärte er: "Ich bitte um Verzeihung, wenn es etwas länger gedauert hat." (774)

Neben den großen Themen, zu denen auch der anhaltende Streit um den Verlauf der Grenze entlang der Elbe im nordöstlichen Niedersachsen gehörte, bietet der Band manch kleine Überraschung. Günter Gaus berichtete in einem Brief an Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel, Honecker habe ihm erklärt: "Ich habe den Polen gesagt, daß wir gegen ein Wiederaufleben stalinistischer Prozesse sind. Die Basis der Zivilisation ist der Code Napoléon." Honecker bezog sich auf den Plan einer Anklage gegen Edward Gierek, nach seiner Auffassung aufgrund nachträglicher Gesetze. Honecker weiter: "Nicht einmal der Volksgerichtshof hat so etwas gemacht. Sonst wäre ich nicht zu Zuchthaus, sondern zum Tode verurteilt worden." (49) Falsch wäre es, Honecker aufgrund dieser Äußerung zum Verfechter des (an Werte gebundenen) Rechtsstaates zu machen. Aber den Normenstaat verteidigte er gegen den Maßnahmenstaat, um Ernst Fraenkels Kategorien zu verwenden.

Und schließlich nahm der Rezensent ähnlich erstaunt wie Alexander Schalck-Golodkowski zur Kenntnis, dass Franz Josef Strauß ankündigte, ab dem 3. Januar 1985 "Urlaub bei seinem 'alten Freund' [Felipe] Gonzalez in Spanien" zu machen (861). Weder in Straußens "Erinnerungen" noch in den Biografien über ihn wird der Spanier überhaupt erwähnt.

Bernd Rother