sehepunkte 19 (2019), Nr. 9

Karam Khella: Dioskoros von Alexandrien (444-454)

Karam Khella hat 1953-1957 koptische Theologie in Kairo studiert, bevor er 1958 für ein Promotionsstudium nach Kiel gekommen ist, das er 1963 mit der vorliegenden Studie zu Dioscorus von Alexandria abgeschlossen hat. Das 2017 publizierte Buch enthüllt erst am Ende des letzten Kapitels (201), dass es sich um eine 44 Jahre alte Studie handelt, die um das Nachwort (im unpublizierten Manuskript die Seiten 302-308) gekürzt worden ist. [1] Derselbe Text (ohne das sogenannte "Allgemeine Verzeichnis") wurde schon einmal vor über 30 Jahren in einem Sammelband der koptischen Gemeinde Hamburg publiziert. [2] Das Buch ist gegliedert in ein "Allgemeines Verzeichnis" (I-LV), einen Hauptteil "Dioskoros von Alexandrien, Theologie und Kirchenpolitik" (1-201), der in drei Kapitel unterteilt ist und fünf "Besondere Ausführungen im Anhang", die man wohl als "Endnoten" umschreiben kann (202-207).

Das misslich bezeichnete "Allgemeine Verzeichnis" bietet eine kursorische Übersicht zu erhaltenen Schriften von Dioscorus (II-IV), eine Übersicht der relevanten Quellen (V-XXXVII) und Stand der Forschung und Bibliographie (XXXVIII-LV). Deutlich werden hier Khellas Kenntnis und Nutzung von Texten in Koptisch, Syrisch und Arabisch. Zusammenstellung und (zum Teil ausführliche) Kommentierung der Quellen sind idiosynkratisch und die Literaturangaben z.T. veraltet. [3] Das erste Kapitel "Persönlichkeit, Leben und Umwelt des Dioskoros" ist der Quellenlage entsprechend sehr kurz (1-16), ergänzt wird die ungenügende Textgrundlage der Antike aber in problematischer Weise durch verstreute Notizen aus späten Quellen. Das zweite Kapitel "Dioskoros im Christologischen Streit" (17-144) mit 19 Unterkapiteln stellt den Hauptteil der Arbeit. Hier bieten die Konzilsakten vom zweiten Konzil von Ephesus (449) und Chalkedon (451) eine solide Quellengrundlage und die Zeit ist deshalb - allerdings fast nie aus der Sicht des Dioscorus - schon oft von Kirchenhistorikern behandelt worden. Das dritte Kapitel "Die Theologie des Dioskoros" (145-202) ist in sieben Unterkapitel unterteilt und setzt sich mit den wenigen theologischen Fragmenten des Dioscorus auseinander, die sich von ihm erhalten haben.

Zusammengefasst können zwei positive Eigenschaften des Buches genannt werden: 1) Khella hat koptische, syrische und arabische Quellen herangezogen, die europäische Kirchenhistoriker häufig nicht zur Kenntnis nehmen. 2) Über die Arbeit verstreut gelingen Khella interessante Einzelbeobachtungen, die sich allerdings nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfügen. Denn das Werk zeigt Schwächen, die den Druck des Buches in vorliegender Form kaum rechtfertigen. Das geringste Manko sind noch der (im Vergleich zum unveröffentlichten Manuskript von 1963) schlampige Schriftsatz (eine kleine Auswahl: I: "bezeifchnen", III: "mopophysitischer Kreise" XX: "Chrstologie", LV: "sehen" statt "gehen"; 9: "Nacht" statt "Macht", 12: "Hört der Orthodoxie" statt "Hort der Orthodoxie" etc.), unsystematische und variierende Zitierweisen ("wright" [sic!], "Wrights Katalog" etc.) oder die Tatsache, dass Khella die Arbeit seit 1963 nicht einmal ansatzweise überarbeitet hat.

Die zwei Hauptprobleme der Arbeit sind erstens grobe inhaltliche Fehler, die zu zahlreich sind, als dass das Buch für Dioscorus und seine Zeit empfohlen werden könnte. Beispielhaft mag hier angeführt werden, dass Khella ausführt, das zweite Konzil von Ephesus im Jahre 449 habe Andreas von Samosata und Basilius von Seleucia abgesetzt (72 - Khellas Fußnote 312 führt ins Nirgendwo). In Wahrheit war der erste schon vor Jahren gestorben und findet gar keine Erwähnung am Konzil, während Basilius einer der Organisatoren des Konzils war und deswegen zwei Jahre später in Chalkedon vorrübergehend abgesetzt wurde. Laut Khella nahm der tote Andreas von Samosata auch zwei Jahre später an der ersten Sitzung des Konzils von Chalkedon teil (mit irreführender Berufung u.a. auf die Konzilsakten: 108 mit Fußnote 511).

Zweitens offenbart das Werk einen irritierenden Mangel an grundlegender Quellenkritik. Drei Beispiele: 1) "Vor seiner Ordination zum Bischof trug Dioskoros den Namen Jakob ('Iακώβ)" (2). Obwohl Khella keinen direkten Hinweis gibt, wie er zu dieser Erkenntnis kommt, die nirgendwo in der Antike bezeugt ist, zitiert er auf der nächsten Seite den arabischen Historiker al-Maqrīzī (14./15. Jahrhundert). Dieser berichtet in der Tat in seiner "Geschichte der Kopten", dass es Kopten gäbe, die meinten, Dioscorus hätte vor seiner Ordinierung Jakob geheißen. Allerdings zeigt der Kontext, dass al-Maqrīzī versucht, landläufige Meinungen seiner Zeit wiederzugeben, warum die Nichtchalkedonier auch "Jakobiten" genannt wurden. 2) In Khellas Diskussion zum Konzil von Chalkedon erscheint Theopistus' Vita des Dioscorus gleichberechtig neben den Konzilsakten. Wenn Dioscorus in Theopistus' Vita über Kaiserin Pulcheria lästert, zieht Khella das als Argument heran, dass Dioscorus schon vor Chalkedon wusste, was ihn auf dem Konzil erwartete (125). 3) Gänzlich unverständlich ist, warum eine arabische Übersetzung der (lateinischen!) Konzilsakten von Chalkedon aus dem Jahre 1694 ein eigener Quellenwert zugestanden wird (IX-X). Diese Übersetzung findet sich im Werk Al-Bermāwīs von 1938, der regelmäßig zitiert wird (zum Beispiel 54-58, allerdings in den Fußnoten auch als Al- Bermāwī oder al. Bermāwī (81) aufgeführt), welches allerdings als "erbauliches Werk", "keinen großen Wert darauf legt, einzelne Stellen seiner Argumentation zu belegen" (XL). Khella scheint jedem Text, der über Dioscorus berichtet, unabhängig von dessen Entstehungszeit und -kontext, den gleichen Stellenwert zuzumessen.

Daneben sind Khellas Einschätzung der Spätantike als "dekadenten Zeit" (13) wie auch seine allgemeinen Ausführungen zum "ägyptischen Nationalbewusstsein" des Volkes, das Dioscorus gegen die "fremden Herrscher" (10) bzw. die "Fremdherrschaft des byzantinischen Kaisers" (12) unterstützte, fragwürdig. Daher kann Khellas Buch trotz breiter Quellenbasis und zum Teil interessanter Ansätze dem historischen Dioscorus und den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit nicht gerecht werden. Eine Monographie zu Dioscorus bleibt weiterhin ein Desiderat, das der Rezensent in naher Zukunft mit einer Monographie zu füllen hofft. [4]


Anmerkungen:

[1] Die unveröffentlichte Dissertation von 1963 enthält noch eine "Würdigung" des Dioscorus (302-308), die im 2018 erschienenen Buch nicht abgedruckt ist.

[2] Karam Khella: Dioskoros I von Alexandrien (444-454). Theologie und Kirchenpolitik - 1. Teil, in: Koptische Gemeinde e. V. Hamburg, Les Coptes. The Copts. Die Kopten, Vol. 2, Hamburg 1981, 11-282.

[3] Siehe vor allem jetzt Samuel Moawad: Untersuchungen zum Panegyrikos auf Makarios von Tkōou und zu seiner Überlieferung, Wiesbaden 2010, sowie idem: Die Arabische Version der Vita Dioscori, Turnhout 2016.

[4] Volker Menze: The Last Pharaoh of Alexandria: Patriarch Dioscorus and Ecclesiastical Politics in the Later Roman Empire.

Rezension über:

Karam Khella: Dioskoros von Alexandrien (444-454), Hamburg: Theorie und Praxis Verlag 2017, LVI + 207 S., ISBN 978-3-939710-30-1, EUR 28,00

Rezension von:
Volker Menze
Medieval Studies Department, Central European University, Budapest
Empfohlene Zitierweise:
Volker Menze: Rezension von: Karam Khella: Dioskoros von Alexandrien (444-454), Hamburg: Theorie und Praxis Verlag 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/09/32538.html


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