sehepunkte 19 (2019), Nr. 9

Laurike in 't Veld: The Representation of Genocide in Graphic Novels

Die Comicforschung hat sich in den letzten zwei Dekaden in Europa zu einem boomenden Forschungsfeld entwickelt. Obwohl prinzipiell transdisziplinär, sind medienwissenschaftlich orientierte Studien besonders prominent vertreten. Dabei ist das Verhältnis von Comics und Geschichte, genauer die Darstellung der Shoah im Comic, ein zentrales Forschungsfeld, denn letztlich war es vor allem der Diskurs um Art Spiegelmans "Maus", der seit den 1990er-Jahren das Comic endgültig vom Schund- und Schmuddel-Image befreite und damit half, es als literarisches und künstlerisches Medium anzuerkennen, welches sich jedem Thema, und damit auch der Shoah, 'angemessen' nähern kann. In den letzten Jahren sind vermehrt Comics zur Shoah und der Erinnerung an sie erschienen, so dass "Holocaustcomics" mittlerweile ein eigenes Subgenre bilden, deren Profilierung auch durch die intensive Erforschung dieser medialen Repräsentation gefördert wird.

In ihrer 230 Seiten umfassenden Dissertationsschrift greift die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Laurike in't Veld diesen Forschungsstrang auf und geht der Frage nach, wie in Comics genozidale Gewalt dargestellt wird. Sie geht dabei von Graphic Novels aus, die die Shoah thematisieren (Art Spiegelmans "Maus", Pascal Crocis "Auschwitz", Joe Kuberts "Yossel", Eric Heuvels "The Search" und Dave Sims "Judenhass") und erweitert ihr Analysefeld um solche, die den Genozid an den Armeniern (Paolo Cossis "Medz Yeghern. Il Grande Male"), das Massaker von Srebrenica während des Bosnienkrieges (Joe Kuberts "Fax from Sarajevo" und Joe Saccos "Safe Area Goražde") und den Genozid an den Tutsi in Ruanda umfassen (Jean-Philippe Stassens "Deogratias", Rupert Bazambanzas "Smile Through the Tears" und Kristian Donaldsons "99 Days"). Ihre Auswahl ist dabei mit Ausnahme von "Maus" (deren akademische Rezeption für die Autorin eine Blaupause für alle anderen Comics bildet, die sich mit genozidaler Gewalt beschäftigen) auf Graphic Novels beschränkt, die nach dem Jahr 2000 erschienen sind und im englischsprachigen Raum geschaffen oder ins Englische übersetzt wurden. Die Autorin wendet sich methodisch dem Kitsch als kulturellen und visuellen Konzept zu. Damit greift sie systematisch den akademischen und feuilletonistischen Kern der Debatten um Genozidcomics auf, denn diese verknüpfen immer wieder die moralische Ebene (verletzt die Darstellung die Würde der Opfer?) mit medienspezifischen Fragen nach Immersions- und Ästhetisierungsstrategien. Die Autorin skizziert so einen historisierten Kitsch-Diskurs, der eine Differenzierung in unproduktiven Kitsch (der zu einem ästhetischen, emotionalisierenden und immersiven Erlebnis durch genozidale Repräsentationen führt) und produktive Formen des Kitschs (die ähnlich immersiv sind, aber Reflexionen über die konkrete Repräsentation zulassen oder gar forcieren) ermöglicht. Sie stellt den Lesenden dafür in drei Kapiteln zentrale Ausformungen von Kitsch in den ausgewählten Comics vor und schließt mit einer Analyse von Anti-Kitsch-Strategien. So entsteht im Laufe ihrer Argumentation ein Raster, in dem sie Kitsch-Strategien in den genannten Repräsentationen unabhängig vom konkreten historischen Sachverhalt identifizieren kann und diese mit großer Professionalität an einzelnen konkreten Comicsequenzen identifiziert, analysiert und gekonnt an fachwissenschaftliche Diskurse zurückbindet.

Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei zunächst zwei (un)menschlichen visuellen Metaphern: dem Tier und der Puppe (Kapitel zwei). Beide Metaphern ermöglichen in jeweils unterschiedlichen Formen über den Moment der (rationalen) Selbstwirksamkeit eine Reflexion auf das Menschlich-Sein, aber auch das Entmenschlicht-Werden durch Formen genozidaler Gewalt. In Kapitel drei identifiziert Laurike in't Veld ein weiteres Kitsch-Element in der Moralisierung der Täter*innen. Sie zeigt über das Spektrum der Täterdarstellung vom absolut Bösen und exzessiven Täter bis hin zu moralisch differenzierteren Formen, die Handlungsspielräume der Täter erkennen lassen, wo und wie Graphic Novels Ansätze bieten, Genozide historisch zu erfassen. Schließlich wendet sie sich in Kapitel vier der Darstellung von Massengewalt und sexueller Gewalt zu. Ausgehend von Holocaust-Repräsentationen markiert sie vor allem visuelle Tabus bei der Darstellung der Shoah im Comic und fragt, wo diese bewusst und mit welchen Folgen ausgereizt werden. Sie weist hier überzeugend nach, dass sexuelle Massengewalt weniger in Holocaustcomics und deutlicher, wenn auch meist sehr oberflächlich und stereotyp, in anderen Genozidcomics aufgegriffen wird - und zwar vor allem über Sprache und nur in geringem Maß über Bilder. Schließlich identifiziert Laurike in't Veld zwei Anti-Kitsch-Strategien, derer sich die von ihr ausgewählten Comickünstler als "a response to debates in kitsch theory" bedienen (175). Obwohl die Autorin diese These nicht umfassend belegen kann, so sind ihre Argumentationen belastbar. Zunächst demonstriert sie hier einen Wechsel vom Zeigen der Massenverbrechen hin zum Sehen und Erleben der Opfer, indem vor allem auf den Akt des Sehens im visuellen Bereich des Comics fokussiert wird. Als zweite Strategie beschreibt sie verschiedenste Formen des Paratextes (insbesondere Vor- und Nachworte) als Möglichkeiten, Wahrheitsansprüche (etwa über Quellenoffenlegung oder das Verweisen auf Referenzfotografien), aber auch die eigene Motivation als Rechtfertigungsstrategien der visuellen Gestaltung zu kommunizieren. Hier hätte die Autorin noch differenzierter auf Authentizitätsfiktionen eingehen können, die in Form von Simulationen wissenschaftlicher Methodik häufig im Comic vorkommen. So ließen sich Wahrheitsbehauptungen von wissenschaftlicher Korrektheit trennen.

Für die Rezensentin ergeben sich zwei Kritikpunkte aus dem Design der Studie: Laurike in't Veld hat zwar exemplarisch die von ihr gewählten Holocaustcomics über eine kurze Geschichte der Repräsentation der Shoah im Comic hergeleitet (8-13), für die anderen Genozide unterlässt sie dies aber. Es ist so nicht nachzuvollziehen, aus welcher Bandbreite und aus welchen Comickulturen überhaupt eine Auswahl getroffen wurde und inwiefern hier der Comic "Maus" tatsächlich als diskursive Blaupause verstanden werden kann. War die ausschließliche Wahl von Künstlern Zufall oder gibt es Comickünstlerinnen, die sich diesem Thema widmen, aber zum Beispiel wegen fehlender Übersetzung ins Englische nicht berücksichtigt wurden? Das hat auch für die Argumentation Folgen, denn spätestens im Kapitel zur Darstellung sexueller Gewalt ist zu fragen, inwieweit diese Repräsentationen im Comic grundsätzlich durch 'gendered memory' bestimmt werden. Außerdem repräsentiert die Auswahl überproportional eine US-amerikanische Ästhetisierung - dies hätte noch deutlicher als Reichweite der eigenen Argumentation reflektiert werden können.

Zweitens muss gefragt werden, ob der Kitsch-Diskurs über Repräsentationen des Holocaust in globaler Perspektive tatsächlich zu einem wissenschaftlichen universellen Maßstab bei der Beurteilung von Genozidcomics erhoben werden kann, oder ob nicht auch andere Denkmuster bei der moralischen und ästhetischen Beurteilung von Genozidcomics aus nicht-westlichen Kulturen mit einbezogen werden müssen. Hier wäre eine etwas deutlichere Reichweitenbestimmung des gewählten methodischen Ansatzes hilfreich.

Ebenso erscheint es sinnvoll, auch die Wirkung von Genozidcomics jenseits des akademischen Diskurses deutlicher einzubeziehen. In einem nicht unerheblichen Maße ließe sich so als geschichtskulturelle Perspektive aufzeigen, ob und wie Kitsch-Strategien etwa mit geschichtspolitisch forcierten Erinnerungsmustern (dis)harmonieren und wo Kitsch tatsächlich problematisch oder "unproduktiv" wird: wenn er als wahrhaftige und realistische Darstellung rezipiert wird. Im Fall von Crocis "Auschwitz" lässt sich dies nachweisen und das sagt damit vor allem etwas über das Verhältnis einer Erinnerungsgemeinschaft zu Genozid-Kitsch aus. Hier bietet die Analyse Potential zum Weiterforschen, dies setzt aber eine intensivere Beschäftigung mit den dargebotenen historischen Narrativen voraus.

Das Buch verfügt über einen Endnoten- und Literaturapparat nach jedem der sechs Kapitel. Dabei kommt es nicht nur zu vielen Dopplungen aus vorhergehenden Ausführungen; eine Gesamtübersicht der verwendeten Werke ist so nur schwer möglich. Außerdem wird in der aufgeführten Literatur nicht zwischen Comics und Sekundärliteratur getrennt. Dies ist eher ungewöhnlich und verhindert ein schnelles Überblicken der in die Analyse einbezogenen Comics. Bei der Kürze des Werkes und den häufigen Bezügen, die die Autorin kapitelübergreifend zu ihren Argumentationen herstellt, überzeugt dieses Vorgehen nicht.

Das Buch ist vor allem da überzeugend, wo konkrete Sequenzen systematisch, detailreich und sehr gekonnt analysiert und dann an Interpretationslinien von produktivem und weniger produktivem Kitsch zurückgebunden werden. Laurike in't Veld hat einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Genozidcomics verfasst, der über ihre Thesen, aber auch die genannten Kritikpunkte vielfältige transdisziplinäre Anschlüsse bietet.

Rezension über:

Laurike in 't Veld: The Representation of Genocide in Graphic Novels. Considering the Role of Kitsch (= Palgrave Studies in Comics and Graphic Novels), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, X + 230 S., 13 Abb., ISBN 978-3-030-03625-6, EUR 74,89

Rezension von:
Christine Gundermann
Historisches Institut, Universität zu Köln
Empfohlene Zitierweise:
Christine Gundermann: Rezension von: Laurike in 't Veld: The Representation of Genocide in Graphic Novels. Considering the Role of Kitsch, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/09/33149.html


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