sehepunkte 19 (2019), Nr. 10

Rezension: Cortés und die Eroberung Mexikos

Wir schreiben das Jahr 2019, das als Gedenkjahr neben dem Beginn des Zweiten Weltkriegs vor allem ein welthistorisches Ereignis aufzuwarten hätte: Vor nunmehr 500 Jahren landete ein von Hernán Cortés geführtes Unternehmen an der Küste des heutigen Mexikos, das zentrale Bedeutung für viele weitere politische, kulturelle, religiöse und anderweitige historische Entwicklungen hatte. Im deutschen Sprachraum wird diesem Jahrestag in der Öffentlichkeit wenig Beachtung geschenkt, nicht einmal im Sog des als ungleich wichtiger hervorgehobenen Humboldtjahrs, und es besteht wenig Grund zur Annahme, dass das Jahr 2021 (Fall Tenochtitlans) für intensiveres Gedenken herangezogen werden wird.

Die beiden hier rezensierten Bücher bilden also eher Ausnahmen und sind umso wichtiger, zumal beide im Programm des C.H. Beck Verlags erschienen sind, der bekannt für seine Brückenschlagfunktion zwischen aktueller Forschung und einer breiteren Öffentlichkeit ist.

Mit Stefan Rinke kann der Verlag einen renommierten Historiker vorweisen, der sein Handwerk schon in zahlreichen Monographien zu Lateinamerika, vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, bewiesen hat. Schon die große Bandbreite der von ihm behandelten Themen macht klar, dass das Gros des Schaffens nicht der Aufarbeitung dezentraler Quellenbestände oder dem Heben obskurer Archivdokumente gewidmet ist, sondern die Synthese von Chroniken und Forschungsstand im Vordergrund steht. Diese Fertigkeit beherrscht Rinke meisterhaft: Im konkreten Fall verarbeitet er in Conquistadoren und Azteken. Cortés und die Eroberung Mexikos virtuos die Darstellungen der wichtigsten Chroniken zur Eroberung Mexikos, ohne bei deren Interpretation und Einordnung die Erkenntnisse jahrzehntelanger Forschungstraditionen Europas, Anglo- und Lateinamerikas zu vernachlässigen.

Freilich, der Preis dafür ist, dass ein anderer Rezensent als dieser das Werk als "wenig innovativ" bezeichnen könnte: Es gibt kaum etwas in dem Buch, das diejenigen, die die Diskurse der letzten drei Jahrzehnte verfolgt haben, ernstlich erregen oder erschüttern würde. Rinke ist nicht mehr daran gebunden, durch einen bemühten epistemischen Kraftakt irgendetwas zu beweisen und kann sich ganz dem Schließen der Lücke zwischen einem allgemeinem Geschichtsverständnis mit oft festgefahrenen Vorstellungen und den Erkenntnissen der Forschung widmen.

Der Aufbau des Buchs ist so bieder wie pragmatisch: Mit Ausnahme eines dezidierten längeren Exkurses über "Die Welt der Azteken" (Kapitel 4) und des Abspanns "Das Erbe der Conquista" könnte man den Aufbau mit dem einer Chronik aus dem 16. Jahrhundert selbst verwechseln. Man folgt der Conquista beinahe in den Fußstapfen eines Bernal Díaz, der diese von den Vorgängerexpeditionen Hernández de Córdobas und Grijalvas bis hin zu Folgeoperationen nach Honduras miterlebte und niederschrieb.

Das Interessante ist vielmehr die Gestaltung innerhalb der Kapitel und zwischen den Zeilen. Darin gibt es nicht nur eine Vielzahl weiterer Exkurse zu indigenen Kulturen oder zu den weiteren Lebenswegen von Teilnehmern. Rinke diskutiert insbesondere auch kontroverse Hypothesen zu Motiven der Handelnden oder deren Darstellungen der tatsächlichen Verhältnisse und Ereignisse (etwa zur "Rückkehr des Quetzalcoatl", 122-7, hinsichtlich des Massakers von Cholula, 165/6, sowie zur Ermordung Moteuczomas, 206/7). Dabei geht Rinke so vor, wie man es der Ansicht des Rezensenten nach tun soll: Er widersteht der Vereinnahmung, legt dar, wer mit welchen Argumenten welche Position vertritt, und verzichtet dennoch nicht darauf, ein eigenes einschätzendes Urteil hinsichtlich der Plausibilität abzugeben.

Besonders wertvoll ist nicht nur das fast schon obligatorische Hervorheben der Rolle der indigenen Alliierten für den Erfolg von Cortés, sondern die Abkehr vom simplifizierenden "Täuschungsnarrativ". Rinke verdeutlicht überzeugend, dass die indigene Unterstützung der Spanier keineswegs einem naiven Trickbetrug gleichkam, sondern rationalen Strategien folgte, die vielfach die mittelfristigen Ziele der indigenen Eliten abzusichern halfen. Dass indigenen Anführern dabei auch mitunter gravierende Fehleinschätzungen unterliefen trennt sie nicht von Cortés, sondern eint sie mit ihm - auch das zeigt Rinke. Die langfristige Entwicklung und negativen Folgen wie die Entmachtung der Eliten war zu jenem Zeitpunkt weder für den indigenen Adel noch Cortés noch andere Akteure absehbar.

Vitus Hubers' Die Konquistadoren. Cortés, Pizarro und die Eroberung Mexikos hatte hingegen - am Titel ersichtlich - ein breiteres Feld abzudecken. Darüber hinaus stand Huber vor einer besonderen Herausforderung: Das Buch bildet Teil der Reihe "C.H: Beck Wissen" und umfasst inklusive Register gerade einmal 128 kleinformatige Seiten, auf denen dieses umfassende Thema allgemein zugänglich und kompakt dargestellt werden musste. Aufmachung und Format der Reihe versprechen eine gut portionierte Aufbereitung des Stoffes in einigermaßen plakativer Klarheit. In Kombination mit Autoren und Autorinnen am Puls der Forschung soll wahrscheinlich eine flache oder nicht zeitgemäße Darstellung vermieden werden.

Mit Vitus Huber hat der Beck-Verlag einen jungen Autor gewonnen, dessen Karriere beeindruckend mit Fellowships an einem halben Dutzend renommierter Institutionen gespickt ist. Er ist unzweifelhaft am Puls der Zeit bei der theoretischen Annäherung an das Feld, das zeigen sein Werdegang und seine hervorragende, 2018 erschienene Dissertation zur "politischen Ökonomie der Conquista" .[1] Dennoch kann man am rezensierten Werk erkennen, warum gerade für Formate wie dieses arrivierte Forscher möglicherweise eine geeignetere Wahl sind. Während Rinke sich autonom dem Schließen der Lücke zwischen Forschungsstand und Öffentlichkeit widmet, kann sich Huber in Perspektive und Duktus nicht von seinem akademischen Werk lösen. Die Sätze sind umständlich und gespickt mit akademischem Sprech ("Der Vorgang der Conquista basierte dabei auf meist vor Ort getroffenen Entscheidungen verschiedener Akteure mit kontingenten Konsequenzen", 34).

Dazu gibt es sehr wenige Absätze, Quellenbegriffe werden unnötig oft zur scheinbaren Präzisierung verwendet ("Dies würde dem König und dem Gemeinwohl dienen, den Ruhm der spanischen Krone 'vermehren' (aumentar) [...]", 101). Auch die Verwendung stark theoretisch begründeter Begriffe ist für ein kleines Handbüchlein unpassend. Wenn lediglich 100 A6-Seiten zur Verfügung stehen, um "Die Konquistadoren" zu fassen, ist es wenig zielführend, den Leser und Leserinnen eine Aufgabe zur Selbsterschließung einer Begriffsbildung zu stellen: "Cortés' Briefe verdeutlichen das Phänomen der Selbstinszenierung (self-fashioning: Rolena Adorno, Robert Folger)" (100) - der Mehrwert ist an der Stelle nicht erkennbar. Wer auch die (ausgezeichnete!) Dissertation Hubers liest, wird keinerlei stilistische Unterschiede feststellen. Dort jedoch wirken die hier monierten Elemente durch die ganz anderen Möglichkeiten der Narrativentwicklung und Ergänzung im Fußnotenapparat im Gegensatz zum hier besprochenen Werk in keiner Weise störend.

Es ist müßig, an dieser Stelle die Kapiteleinteilung (Kolumbianische Phase; Cortés; Pizarro; "Missionare und Misserfolge"; Das Konquistadorenbild) selbst zu kritisieren, zumal diese bei einem solchen Format zwangsläufig für Kritik anfällig sein muss. Die Darstellung schweift allerdings in dem gewählten Schema immer wieder stark ab und springt, sodass dem Rezensenten nicht immer klar war, was den Lesern und Leserinnen eigentlich vermittelt werden sollte. Das gipfelt darin, dass im Kapitel 3 (Pizarro und die Eroberung des Inkareichs) im Abschnitt "Die Kinder der Sieger" unvermittelt die kolonialen Arbeitsregimes generell besprochen werden und eine seitenfüllende Abbildung aus der vorkolumbianischen(!) und mexikanischen(!) Matrícula de Tributos prangt. Insgesamt beschleicht stets der Eindruck, man bekomme keinen Überblick geboten, sondern einzelne Bruchstücke, die keinem wirklich geordneten Plan gehorchen und kein Ganzes ergeben.

Zwar erwähnt Huber immer wieder die Bedeutung indigener Kontingente und Alliierter für die spanischen Konquistadoren, der Figur des indigenen Konquistadoren wird jedoch keine Aufmerksamkeit zuteil. Auch die Kontinuität der Conquista bis weit ins 17. Jahrhundert oder "Nebenschauplätze" wie Venezuela, Neugranada, Chile oder Río de la Plata werden fast vollständig ausgeblendet. Zwar schildern sieben Seiten (91-8) einige "Misserfolge", jedoch nur exemplarisch (Südchile; Florida; die Orellana-Expedition in den Amazonas). Auch wird die Dichotomie Cortés / Pizarro versus Misserfolge der komplexen Welt der Herrschaftsbildung in der Neuen Welt nicht gerecht. Diese Kritik allerdings, das muss wiederholt werden, macht sich bei einem so eingeschränkten Format selbstverständlich leicht.

Angesichts der analytischen Tiefe seiner bisherigen Arbeit und seiner Zielstrebigkeit wird Vitus Huber jedenfalls, dieser kritischen Rezension ungeachtet, unzweifelhaft noch viele akademische Jahrzehnte und Forschungsthemen zur Verfügung haben, um weitere Ergebnisse seiner Forschung zielgruppengerecht und differenziert veröffentlichen zu können.


Anmerkung:

[1] Vitus Huber: Beute und Conquista. Die politische Ökonomie der Eroberung Neuspaniens, Frankfurt am Main 2018.

Rezension über:

Stefan Rinke: Conquistadoren und Azteken. Cortés und die Eroberung Mexikos, München: C.H.Beck 2019, 399 S., 27 s/w-Abb., 11 Kt., ISBN 978-3-406-73399-4, EUR 28,00

Vitus Huber: Die Konquistadoren. Cortés, Pizarro und die Eroberung Amerikas (= C.H. Beck Wissen; 2890), München: C.H.Beck 2019, 128 S., 10 s/w-Abb., 3 Kt., ISBN 978-3-406-73429-8, EUR 9,95

Rezension von:
Werner Stangl
MacMillan Center, Yale University, New Haven
Empfohlene Zitierweise:
Werner Stangl: Cortés und die Eroberung Mexikos (Rezension), in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 10 [15.10.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/10/32766.html


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