sehepunkte 20 (2020), Nr. 5

Riikka Miettinen: Suicide, Law, and Community in Early Modern Sweden

Miettinens Buch ist die Druckversion einer 2015 an der Universität Tampere eingereichten Dissertation. Das Werk diskutiert den Umgang mit Selbstmorden im Schweden der Großmachtszeit, also dem 17. und frühen 18. Jahrhundert. Der Selbstmord wurde als Verbrechen angesehen: Der Leichnam eines Suizidanten sollte 'bestraft' werden. In der Regel wurde er vom Henker außerhalb der Ortschaft verbrannt und verscharrt. Diese Entehrung des Toten hatten für die Hinterbliebenen empfindliche soziale Folgen. Ob allerdings tatsächlich eine gezielte Selbsttötung einer voll verantwortlichen Person vorlag, war häufig unklar. Verborgen im Problem des Selbstmordes waren daher nicht nur die Fragen nach Fremdverschulden oder Unfalltod, sondern auch die weit komplexere Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Suizidanten. Diese Fragen mussten im konkreten Fall genau untersucht und entschieden werden. Das eigentliche Thema des Buches von Miettinen sind diese Untersuchungen.

Im Fokus steht der Dialog zwischen lokalen Gerichtsbehörden und Dorfgemeinschaften über Suizide. Es geht also weder um die - ohnehin vermutlich unbeantwortbare - Frage nach frühneuzeitlichen Selbstmordraten noch um eine nordeuropäische Rechtsgeschichte des Suizids, sondern um eine Serie von Fallstudien, die mit dem Instrumentarium vergleichender Mikrostudien die Diskussionen analysieren, die eine Selbsttötung vor Ort auslöste.

Die Untersuchung vor Ort blieb freilich nicht 'vor Ort'. Miettinens Quellen sind Gerichtsakten, die auf Druck der Regierung angefertigt werden mussten. Die Entscheidung des lokalen Gerichtes (häradsting), die ortsansässige Bauern als Geschworene unter dem Vorsitz eines Reiserichters fällten, konnte von einem übergeordneten Gericht in Stockholm oder Turku revidiert und aufgehoben werden. Man darf sich hier etwas an die englischen Assizes und Circuit Judges erinnert fühlen. Die Besonderheit des schwedischen Falles bestand darin, dass die sehr geringe Bevölkerungsdichte - im Egentliga Sverige, dem Kernraum des Reiches, mehr oder weniger dem heutigen Schweden und Finnland, lebten nur 2,5 Millionen Menschen - , die problematische Rechtsordnung - der Reinigungseid z.B. wurde erst 1695 abgeschafft - und die starken lokalen Gemeinschaften - größtenteils freie Bauern mit weitgehenden Selbstverwaltungs- und Repräsentationsrechten - ganz eigene Bedingungen für Justizpflege und Staatsbildung schufen. Originelle Gedanken zum Staatsbildungsprozess als Dialog zwischen Herrschern und Beherrschten entwickelt Miettinen nicht. Man könnte die Einleitung im Proseminar als Einführung zur Staatsformation am Beispiel Schweden lesen, wenn man einmal den Blick über den deutschsprachigen Raum und Westeuropa hinaus lenken möchte.

Miettinen ist freilich nicht die erste, die sich mit Selbstmord im frühneuzeitlichen Schweden befasst. Sie räumt das natürlich ein, gestaltet den Forschungsbericht aber so kurz und vage, dass es ihr kaum gelingt, ihre Studie sinnvoll in der Forschungslandschaft zu platzieren. Was Miettinen von anderen abhebt, ist letztlich vor allem der Umfang ihrer Arbeit und der Umstand, dass die anderen Werke zum Thema in skandinavischen Sprachen vorgelegt wurden.

Miettinens Untersuchungsraum ist von gewaltiger geografischer Dimension. Er umfasst nicht nur Uppland, Kopparberg, Västernorrland, Västmanland, Örebro und Västergötland im heutigen Schweden, sondern auch den Küstenbereich nördlich von Turku, Nordösterbotten mit Teilen des heutigen Kainuu, Teile von Karelien und Savo mit Kexholm. Damit sind im Wesentlichen die frühneuzeitlichen Zuständigkeitsbereiche der Oberhöfe von Stockholm und Turku erfasst. Rund 250 Verfahren wegen Selbstmord lassen sich zwischen dem Anfang des 17. Jahrhunderts und den 1730er Jahren nachweisen. Der Untersuchungszeitraum bleibt flexibel - negativ ausgedrückt: unscharf -, kann aber durch die Rechtsreformen 1608 und 1734 gerechtfertigt werden. Das untersuchte Sample von Selbstmordprozessen besteht aus 189 Fällen vornehmlich aus dem 17. Jahrhundert, bei denen die Überlieferung gut genug ist, um eine nähere Analyse zuzulassen.

Das Buch ist in sechs große Kapitel eingeteilt. Auf die allgemein gehaltene Einführung folgt eine Diskussion der Bewertung des Selbstmordes im frühneuzeitlichen Schweden. Das ist so breit angelegt, wie es klingt: Miettinen präsentiert sowohl die juristische Bewertung und Sanktionierung der Selbsttötung als auch theologische Argumente und die Einstellung der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit. Hier spielte die Angst vor dem Zorn Gottes über den Selbstmord, welcher die gesamte lokale Gemeinschaft strafen konnte, eine zentrale Rolle. Der Selbstmord, darauf beharrt Miettinen, war ein extrem seltener Ausnahmefall, der in der Bevölkerung echtes Entsetzen auslöste. Das wird man nicht grundsätzlich anzweifeln dürfen. Da die schlechte Quellenlage und das Bestreben der Dörfer, Selbstmorde gar nicht erst zuzugeben, es unmöglich machen, konkrete Zahlen zur Häufigkeit des Suizids zu erheben, hätte die Autorin hier dennoch etwas vorsichtiger argumentieren können.

Das dritte Kapitel führt konsequent in die dörfliche Praxis. Bevor ein Verfahren wegen Selbstmord eröffnet werden konnte, musste man sich zunächst darauf verständigen, ob man einen verdächtigen Todesfall als Suizid deuten wollte. Vor Ort mussten Kriterien gefunden werden, anhand derer man eine Selbsttötung feststellen konnte. Die lokalen Gerichte haben es sich bei der Untersuchung der Todesumstände zwar nicht leicht gemacht, aber doch ihre jeweils ganz eigenen Entscheidungen gefällt, die Vorgaben des Gesetzgebers ignorieren konnten. Dennoch zeigte sich ein allgemeiner Trend, Todesfälle immer bereitwilliger als Suizide anzusehen.

Kapitel 4 analysiert konkrete Gerichtsprozesse, die sich mit Selbstmord befassten. Dabei ging es konkret darum, Schuld und Schuldfähigkeit des Suizidanten festzustellen. Das Verfahren gestaltet sich dabei als oft komplexer und kontroverser Aushandlungsprozess zwischen Hinterbliebenen, der kommunalen Führungsschicht und herrschaftlichen Amtsträgern. Wie zu erwarten, erweisen sich die lokalen Eliten als die eigentlichen Herren des Verfahrens. Diese handhabten die juristische Definition von Zurechnungsfähigkeit nach eigenem Gutdünken und waren bereit, vergleichsweise viele Personen als nicht voll schuldfähig einzustufen. Die Unterscheidung zwischen zurechnungsfähigen und unzurechnungsfähigen Suizidanten blieb während des ganzen Untersuchungszeitraums von größter Bedeutung, da sich an der grundsätzlichen Bewertung des Selbstmords als Verbrechen und als Sünde nichts änderte. Die beherrschende Stellung lokaler Wortführer wurde in der Praxis allenfalls durch kirchliche Amtsträger geschwächt. Diese konnten sich gegen den Buchstaben des Gesetzes und ohne weltliche Autoritäten zuzuziehen dafür entscheiden, Fakten zu schaffen und Selbstmördern ein christliches Begräbnis zu gewähren. Als eigentliches 'Opfer' des Staatsbildungsprozesses erscheint die protestantische Geistlichkeit, die den Umgang mit Suizidanten mehr und mehr der weltlichen Herrschaft überließ.

Das fünfte Kapitel richtet den Blick auf den Suizidanten selbst, oder richtiger auf dessen soziales Kapital. Im Verfahren wegen Selbstmord mussten große, allgemeine kulturelle 'scripts' - man könnte wohl auch sagen 'Klischees' - des Selbstmörders mit der sozialen Realität konkreter Suizidanten abgeglichen werden. Hierbei zeigt sich, dass Personen mit Ansehen und Vermögen vergleichsweise selten als voll verantwortliche Selbstmörder angesehen wurden. Suizide von Personen, die hohes Ansehen in der lokalen Gemeinschaft genossen hatten, wurden bereitwillig als Zeichen von Geisteskrankheit gedeutet. Dass die Zuschreibung von Irrsinn zur Anerkennung korrekten Verhaltens in latentem Widerspruch stand, wurde geflissentlich übersehen: Es ging vornehmlich um den Schutz des guten Rufs einer Person, der durch (vorübergehende) Unzurechnungsfähigkeit weniger als durch eine bewusste Selbsttötung geschädigt wurde. Suizide von Personen, die durch deviantes Verhalten bereits negative Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, wurden dagegen als schuldhafte Konsequenz genau dieses Fehlverhaltens gedeutet und verurteilt.

Das sechste und letzte Kapitel geht über eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie nicht hinaus. Neue Forschungsperspektiven oder weiterführende Fragestellungen werden nicht aufgezeigt.

Etwas störend ist, dass jedes einzelne Kapitel sein eigenes Quellen- und Literaturverzeichnis hat. Hier hätte man besser organisieren und damit Umfang einsparen können. Ein Register von Orts- und Personennamen sowie Sachlemmata schließt den Band ab. Der Preis von rund 80 € scheint nicht überzogen. Die Autorin liefert durchgängig solide Arbeit. Hier und da hätte man den Text deutlich straffen können. Die ganz großen Überraschungen bleiben aus. Dennoch verdient Miettinens Studie einen prominenten Platz im Bereich der historischen Erforschung des Suizids.

Rezension über:

Riikka Miettinen: Suicide, Law, and Community in Early Modern Sweden (= World Histories of Crime, Culture and Violence), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, XII + 346 S., eine Kt., eine s/w-Abb., ISBN 978-3-030-11844-0, EUR 83,19

Rezension von:
Johannes Dillinger
Faculty of History, University of Oxford / Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Dillinger: Rezension von: Riikka Miettinen: Suicide, Law, and Community in Early Modern Sweden, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/05/33013.html


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