sehepunkte 20 (2020), Nr. 12

Benjamin Brendel: Konvergente Konstruktionen

"Big dams" zählen zu den markantesten technischen Signaturen des 20. Jahrhunderts. Spätestens seit den umfassenden Dammbauprojekten der US-amerikanischen Tennessee Valley Authority (TVA) in den 1930er Jahren gelten multifunktionale Staudämme, welche der Stromerzeugung, Bewässerung, Schiffbarmachung und dem Hochwasserschutz zugleich dienen, als Schrittmacher und Symbole der Moderne, als Zeichen technischer Kompetenz und als Garanten von Fortschritt und Wohlstand. Die Magie der "großen Dämme" erfasste dabei die ganze Welt. Nach Angaben der "International Commission on Large Dams" (ICOLD) existieren heute global über 58.000 große Dammbauten [1]. Seine Blütezeit erlebte der Staudammbau in den 1960er und 1970er Jahren. Angesichts ihrer gravierenden sozialen und ökologischen Folgen ebbte die Euphorie seit den 1970er Jahren zeitweise ab, erfährt nun aber speziell in den BRICS-Staaten eine gewisse Renaissance. So beabsichtigt Indien (derzeit der fünftgrößte Wasserkraftproduzent der Welt) in den nächsten Jahren über 20 GW zusätzliche Kapazitäten zu errichten, darunter Megastaudämme wie den Dibang Multipurpose Dam [2].

Ein guter Zeitpunkt also für eine Publikation, welche die Globalgeschichte des Staudammbaus im 20. Jahrhundert ausloten möchte. In seiner 2017 am Fachbereich für Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen verteidigten Dissertationsschrift, die 2019 als Buch im Campus Verlag erschienen ist, nimmt Benjamin Brendel drei dieser riesigen Infrastrukturprojekte in den Blick: den Grand-Coulee-Damm in den USA (1933-41), den Damm von Mequinenza in Spanien (1955-61) sowie den Assuan-Damm in Ägypten (1960-71). Analog zum Großteil der umfangreichen technik- und umwelthistorischen Forschungsliteratur versteht Brendel Dammbauten primär als Herrschaftsinstrumente [3]. Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, wie durch Staudämme Herrschaft und Macht konstruiert wurden: "Wie etablierte sich die Idee des Dammbaus im 20. Jahrhundert, wie wurde sie mit der Legitimation von Herrschaft verknüpft und wie wurde Macht am Ort des Dammbaus ausgehandelt?" (20). Brendel verfolgt einen modernisierungskritischen Ansatz, der James Scotts Überlegungen zum Scheitern "hochmoderner" Staaten mit Frederick Coopers Verständnis von Modernisierung als "Wandlungsbewegungen großen Maßstabs mit Selbstantrieb" (19) zu verbinden sucht [4]. Um die Symbole, Wissens- und Bedeutungssysteme des Staudammbaus zu entschlüsseln, greift Brendel auf die kunstgeschichtliche Methode der Ikonographie zurück, welche er mit der klassischen historischen Quellenanalyse kombiniert. Dabei berücksichtigt er Materialien aus Verwaltungsarchiven in den USA, Spanien, Ägypten oder Großbritannien ebenso wie Medienberichte über Dammbauten - und nicht zuletzt das heutige Antlitz der Dämme selbst.

Das Verhältnis von Staudämmen und Macht wurde in der technik- und umweltgeschichtlichen Literatur bereits verschiedentlich unter die Lupe genommen [5] - wenn auch selten so systematisch wie hier. Dem Autor gelingt es dabei durch einen die Regionen und Systeme übergreifenden Vergleich sowie den gut gewählten Analyserahmen, dieser scheinbar so vertrauten Thematik neue Perspektiven und Erkenntnisse abzugewinnen. Brendel beleuchtet die Konstruktion von Macht und Herrschaft durch Dammbauten in einem Dreischritt. Im Mittelpunkt des ersten Großkapitels steht die Genese des technischen und gesellschaftlichen Dammbauwissens. Das zweite Kapitel widmet sich der Implementierung und Nationalisierung dieser Wissensbestände. Kapitel drei schließlich geht der physischen Umsetzung vor Ort in Praxis und Diskurs nach. Den drei inhaltlichen Ebenen sind jeweils unterschiedliche räumliche Bezugssysteme (transnational, national, lokal) und Akteurskonstellationen zugeordnet.

Brendel geht von der These aus, dass Staudämme im 20. Jahrhundert auf dreifache Weise konstruiert wurden - ideell, national und physisch, wobei sich die Ebenen gegenseitig bedingten und um dasselbe Ziel kreisten: der Erzeugung und Legitimierung von Macht (437). Der nationalstaatlichen Ebene kam dabei eine Schlüsselposition zu. Das von den Experten generierte und medialisierte Bild einer sicheren Zukunftstechnologie wurde hier in den Prozess des nation-building eingespeist, diente der stolzen Inszenierung der Nation ebenso wie der Inklusion der Bevölkerung in das politische Leitbild der fortschrittsorientierten, modernen Gesellschaft. Wie Brendel überzeugend herausarbeitet, verfolgten die Akteure dabei höchst unterschiedliche Agenden - und auch die lokale Bevölkerung vor Ort griff aktiv in den Zukunftsdiskurs ein und versuchte sich hier gewinnbringend zu positionieren, wobei die Strategien von der Anpassung an die Vorstellungswelten der staatlichen Akteure bis hin zur subversiven Inszenierung örtlicher Traditionen oder der Einforderung konkreter Rechte reichten. Brendel stellt dabei "konvergente Konstruktionen" des Dammbaus fest, die unabhängig vom jeweiligen politischen System seien und auch nicht auf ihre Funktion als geopolitische Waffe im Ost-West-Konflikt reduziert werden dürften. Einen diskursiven Bruch sieht er erst mit dem Aufkommen der Umweltbewegungen im Globalen Norden ab den 1970er Jahren, welche zu einer Neubewertung der Großkonstruktionen führte - eine durchaus eingängige These, die in der Arbeit allerdings nicht weiter diskutiert wird.

Insgesamt legt Benjamin Brendel mit "Konvergente Konstruktionen" eine ebenso aufschluss- wie detailreiche Studie zum Staudammbau der 1930er bis 1970er Jahre vor, die ihr analytisches Potential vor allem aus der Verknüpfung und Kontrastierung verschiedener Regionen, Zeiten und Akteure gewinnt. Akribisch arbeitet der Autor heraus, wie Dämme in unterschiedlichen Kontexten im Spannungsfeld von Tradition und Moderne als Objekte der Sinnstiftung, aber auch als Instrumente der Machtausübung funktionierten - von der Frage indigener Besitzrechte in den USA über die Aushebelung widerspenstiger spanischer "Kohledörfer", welche unter Franco dem Damm von Mequinenza zum Opfer fallen sollten, bis hin zum Umgang mit dem ägyptischen Welterbe am Nil und der Vertreibung der dortigen nubischen Bevölkerung. Diese Akteurs- und Konfliktebene gehört zu den großen Stärken des Buches - speziell Kapitel III zur physischen Konstruktion der Staudämme zeigt die Ambivalenzen des Dammbau-Fortschrittsnarrativs anschaulich auf. In Kapitel II zur nationalen Konstruktion bleibt die Argumentation dagegen mitunter etwas abstrakt. So hätte der Prozess des nation building gerne noch anhand konkreter Planungen oder Zeremonien weiter konkretisiert werden können.

Andernorts ufern die Details dagegen aus - speziell die häufigen Fußnotenexkurse (z.B. 82, 122, 302) lenken von der Argumentation des Fließtextes zuweilen eher ab als diese zu unterstützen. An einigen Stellen haben sich kleinere inhaltliche Ungenauigkeiten eingeschlichen. Insbesondere die Aussage, dass Dammbauten bis in die 1970er Jahre hinein selten umstritten und kein direkter Gegenstand lokaler Konflikte waren (331), lässt sich vielfach widerlegen - vom Widerstand gegen das bayerische Walchenseekraftwerk in den späten 1940ern bis zur indischen Satyagraha-Kampagne gegen den Mulshi Dam in den frühen 1920er Jahren [6]. Diese Kritik schmälert den Wert der Arbeit aber kaum. "Konvergente Konstruktionen" bietet einen wertvollen ersten Schritt hin zu einer umfassenden Globalgeschichte des Staudammbaus, der die "machtvolle Metaphorik von Dammbauten" (10) umfassend ausleuchtet.


Anmerkungen:

[1] https://www.icold-cigb.org/GB/world_register/general_synthesis.asp, letzter Zugriff 8.10.2020. Nach der Definition der ICOLD wird eine Talsperre dann als groß bezeichnet, wenn ihre Dammhöhe mindestens 15 Meter beträgt oder sie (bei einer Dammhöhe von fünf bis 15 Metern) mindestens drei Millionen Kubikmeter Wasser fasst.

[2] India to Have 70,000 MW of Hydropower Capacity by 2030. In: Economic Times, 21.5.2020, https://energy.economictimes.indiatimes.com/news/power/india-to-have-70000-mw-of-hydropower-capacity-by-2030-official/75859241, letzter Zugriff 25.9.2020.

[3] Z.B.: Jens Ivo Engels u.a.: Macht der Infrastrukturen - Infrastrukturen der Macht. Überlegungen zu einem Forschungsfeld. In: Historische Zeitschrift (2014), Beiheft: Wasserinfrastrukturen und Macht. Politisch-soziale Dimensionen technischer Systeme von der Antike bis zur Gegenwart, 22-58.

[4] James Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven / London 1998; Frederick Cooper: Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive, Frankfurt a.M. / New York 2012.

[5] Exemplarisch: Sara B. Pritchard: Confluence. The nature of technology and the remaking of the Rhône, Cambridge: Harvard University Press 2011; Julia Tischler: Light and power for a multiracial nation. The Kariba Dam scheme in the Central African Federation, New York: Palgrave 2013; Hanna Werner: The politics of dams. Developmental perspectives and social critique in modern India, New Delhi: Oxford University Press 2015; Erik Swyngedouw: Liquid power. Water and contested modernities in Spain, 1898-2010. Urban and industrial environments, Cambridge: MIT Press 2015.

[6] Siehe etwa: Rajendra Vora: The World's First Anti-Dam Movement. The Mulshi Satyagraha 1920-1924, Hyderabad 2009.

Rezension über:

Benjamin Brendel: Konvergente Konstruktionen. Eine Globalgeschichte des Staudammbaus, Frankfurt/M.: Campus 2019, 519 S., 48 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-50981-5, EUR 49,00

Rezension von:
Ute Hasenöhrl
Innsbruck
Empfohlene Zitierweise:
Ute Hasenöhrl: Rezension von: Benjamin Brendel: Konvergente Konstruktionen. Eine Globalgeschichte des Staudammbaus, Frankfurt/M.: Campus 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 12 [15.12.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/12/32012.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.