sehepunkte 21 (2021), Nr. 3

James B. Whisker / John R. Coe: Nazi Ideologist

James Biser Whisker und John R. Coe sind nicht als Schwergewichte der NS-Ideologie-Forschung bekannt. Dieser ist pensionierter Lehrer einer Schule in Pakersburg (West Virginia), jener Emeritus am Department of Political Science der West Virginia University: Unter den vielen Veröffentlichungen Whiskers liegt ein älteres, jedoch hier bibliothekarisch leider kaum greifbares Buch zur NS-Ideologie vor. [1] Umso erfreulicher darf - so viel sei vorab gesagt - das Urteil über ihr Gemeinschaftswerk ausfallen, das sich dem politischen Denken Alfred Rosenbergs widmet: Der Autodidakt und Vielschreiber vertrat nicht nur nach außen hin die ideologische Ausprägung des Deutschen Reichs, sondern er beeinflusste sie auch. [2] Als einziger Vormann des Nationalsozialismus versuchte er, dessen Ideologeme in einem einzigen Werk zu bündeln [3]: dem "Mythus des 20. Jahrhunderts". [4] Die zu besprechende Studie ist eine ideengeschichtliche Einführung insbesondere in dieses Buch.

Whisker und Coe gehen von der ersten Seite an in medias res: Sie benennen einleitend unter anderem die dem "Mythus" zugrundeliegenden Ideen und dessen Quellen (1-22). Hierauf folgen ab dem Hauptteil eingehendere Ausführungen, zuerst zum Inhalt des "Mythus" (23-37). Dann werden jene Quellen ausführlich vorgestellt (39-109). Ab der Buchmitte zeichnen Whisker und Coe die zwei wesentlichen Feindbilder Rosenbergs nach: Juden und römisch-katholische Kirche (211-260). Hiernach geht es um Rosenbergs Verhältnis zum Protestantismus und zur Nordischen Religion (261-312), bevor abschließend mehrere Seiten die Beziehung von Nationalsozialismus und römisch-katholischer Kirche erläutern (313-340). Ein Schriftenverzeichnis erfasst wichtige Schriften Rosenbergs samt Inhaltsangaben (342-347): Zwar ist diese Bibliographie nicht vollständig [5], aber wegen ihrer Hinweise zu den einzelnen Schriften sehr hilfreich, da sie einem möglicherweise oberflächlichen Eindruck von der tatsächlichen Vielschichtigkeit des Werks des NS-Ideologen vorbeugen. Den Band beschließt ein knappes Literaturverzeichnis (347-348) und ein sorgfältig gearbeiteter Index (349-358).

Für das Verständnis von Rosenbergs Mythen-Definition sei, so die Autoren, diejenige des Franzosen Georges Sorel erforderlich (26), der den gemeinschaftsbildenden und - im Falle sozialer Bewegungen - mithin handlungsauslösenden, ja disruptiven Aspekt des Mythos betone (27-28). Rosenberg verbreite den Mythos des heroischen Ariers (32-33), der im ewigen Kampf gegen die Juden stehe (31), und deute politikgeschichtliche Umwälzungen in der Weltgeschichte "through the lens of race" (33). Der "Mythus" verstehe sich als Abhandlung primär über Religion und Philosophie, sekundär über Kunst und Kultur und ihre Beziehungen zur Rasse (3). Die Autoren stellen die forsche These auf, dass die Weltanschauung des Nationalsozialismus wegen des frühen Untergangs des Deutschen Reichs sich realgeschichtlich nicht habe entfalten können (9). Vor dem Hintergrund der utopischen Funktion des Bauerntums bei Rosenberg (13-17) erscheint diese Auffassung durchaus nachvollziehbar.

Der "Mythus" beruhe, so Whisker und Coe, auf neun Lehren bzw. Annahmen (10-11): a) Die deutsche "Rassenseele", historisch von Ehre und Pflicht gekennzeichnet (4), sei in Vergessenheit geraten und ein "Blutsmythos" vonnöten; b) In Deutschland würden verschiedene Rassen um die Macht kämpfen, die größte Bedrohung seien die Juden; c) Die zweite Bedrohung gehe von der römisch-katholischen Kirche aus, da sie jüdisch-syrisch-römische Ideen verbreite, auf Unterordnung beruhe und daher nur für Sklaven und Schwächlinge geeignet sei; d) Die Großstädte seien feindlich, da sie jedes lasterhafte Leben zulasse, das auf dem Land nicht geduldet würde; e) Es gebe zu wenig ländliches, bäuerliches Leben, das daher wiederbelebt werden müsse - ein äußerst wichtiger Gesichtspunkt der "Staatstheorie" Rosenbergs; [6] f) Die Kunst sei der höchste materielle Ausdruck eines Volkes, in dem sich ihre "Rassenseele" zeige; g) Deutschland benötige keine Kolonien, aber Lebensraum im Osten und auf dem alten Reichsgebiet; h) Deutschland habe keine natürlichen Verbündeten, da es als "Rassestaat" nur seine eigene Vergangenheit und Gegenwart sehe.

Eine von vielen wichtigen Quellen für Rosenbergs "Mythus" ist der Frühchrist Justin der Märtyrer und seine Schrift "Dialog mit dem Juden Tryphon", die vom Platonismus beeinflusst ist. Er hatte sich um eine Annäherung des Christentums an nicht-hebräische, nicht-semitische und nicht-östliche Einflüsse bemüht (42) - für Rosenberg eine "Nordic message" (46), der in jenem außerdem einen frühen Kritiker an der Institution Kirche sah (51).

Es ist naheliegend, dass Whisker und Coe das Gesamtwerk Rosenbergs thematisch und nicht chronologisch beleuchten, da der "Mythus" in diesem als opus unicum dasteht. Der Verzicht auf methodische oder anderweitige Vorüberlegungen mag den ein oder anderen Leser wohl stören. Dies ist aber kein Nachteil der Studie, die reichhaltig und unaufgeregt über die zentralen Quellen und Aussagen des "Mythus" informiert. Es ist hingegen klar, dass es guter Kenntnisse der Geschichte, Philosophie, Kunst und Kultur über sämtliche Epochen des Abendlandes hinweg bedarf, um Rosenbergs Werk wissenschaftlich zu kommentieren und seine Quellen zu erläutern: Manches bleibt nämlich - etwa bei der Frage nach dem Ausmaß der Rezeption des Gnostizismus (77) oder des Frühsozialisten Toussenel (188) - im Ungefähren: Ein philologischer Kommentar bzw. eine historisch-kritische Edition des "Mythus", die seinen Autor Zeile für Zeile beim Wort nimmt, bleibt daher ein Desiderat.

Mit der quellengesättigten Darstellung der Ideologie des Nationalsozialismus von Frank-Lothar Kroll (1998), Ernst Pipers unverzichtbarer Rosenberg-Biographie (2005), die aber die ideengeschichtlichen Aspekte leider eher nachrangig behandelt, und der sorgfältigen Edition der Tagebücher Rosenbergs durch Frank Bajohr und Jürgen Matthäus (2015), steht eine groß angelegte, grundwissenschaftliche Beschäftigung mit dem politischen Denken des NS-Hauptideologen hierzulande erst am Anfang. Für dieses Unterfangen ist Coes und Whiskers facettenreiches Buch unentbehrlich.


Anmerkungen:

[1] James B. Whisker: National socialist ideology: concepts and ideas, Greensboro, NC 1979.

[2] Vgl. Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2015, 538.

[3] Vgl. Frank-Lothar Kroll: Alfred Rosenberg. Der Ideologe als Politiker, in: Ders.: Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotential seiner Gegner, Berlin 2017, 77-95, hier 77.

[4] Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930f.

[5] Eine vollständige Rosenberg-Bibliographie liefert Piper: Alfred Rosenberg, 626-645.

[6] Das Idealbild eines bäuerlich lebenden Volkes ist auch ein wichtiges Motiv eines weitverbreiteten Geschichtsbuchs aus dem Deutschen Reich, vgl.: Bertram Wojaczek: Das Geschichtsbuch der literarischen Geschichtsschrift "Der Weg unseres Volkes" (1938) von Gustav Frenssen. Eine Annäherung aus geistesgeschichtlicher Sicht (Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 117), Hamburg 2020, 43, 47, 55, bes. 100-103.

[7] Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich: Hitler - Rosenberg - Darré - Himmler - Goebbels, Paderborn / München / Wien / Zürich 1998; zu Rosenberg: ebd., 99-153.

Rezension über:

James B. Whisker / John R. Coe: Nazi Ideologist. The Political and Social Thought of Alfred Rosenberg, Washington, DC: AcademicaPress 2020, X + 358 S., ISBN 978-1-68053-117-6, USD 139,95

Rezension von:
Bertram Wojaczek
Rosenheim
Empfohlene Zitierweise:
Bertram Wojaczek: Rezension von: James B. Whisker / John R. Coe: Nazi Ideologist. The Political and Social Thought of Alfred Rosenberg, Washington, DC: AcademicaPress 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/03/35157.html


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