sehepunkte 21 (2021), Nr. 4

Filip Gańczak: "Polen geben wir nicht preis"

Der polnische Politikwissenschaftler Filip Gańczak analysiert in seiner Dissertation auf der Grundlage von Unterlagen aus polnischen und deutschen Archiven die Politik der DDR-Führung gegenüber Polen in den Krisenmonaten von August 1980 bis zur Verhängung des Kriegsrechts durch die polnische Regierung im Dezember 1981. Dabei widmet er sich nicht nur den Entscheidungen des SED-Politbüros, sondern auch den ihnen zugrunde liegenden Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Konflikten. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Einfluss der sowjetischen Führung unter Leonid Breschnew auf das Verhalten der SED-Führung sowie gegenüber der polnischen Oppositionsbewegung, die sich im Umfeld der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung Solidarność im Sommer 1980 formiert hatte.

Gańczak konzentriert sich auf vier Grundsatzentscheidungen. Das betrifft erstens die anfängliche Politik der ideologischen Abgrenzung und faktischen Abschottung, zweitens den Versuch, durch wirtschaftliche Unterstützung eine Stabilisierung Polens herbeizuführen, drittens die Forderung nach einer militärischen Intervention in Polen und viertens das Drängen auf die Verhängung des Kriegszustandes. Die Studie macht überaus deutlich, wie die SED-Führung relativ rasch auf die militärische Karte setzte, um die Lage in Polen politisch und wirtschaftlich zu festigen. Als entscheidendes Motiv für diese Haltung sieht Gańczak die Befürchtung der SED-Führung, das polnische Beispiel könnte in der DDR Schule machen. In besonderer Weise hätten ostdeutsche Sicherheitsinteressen angesichts der geopolitischen Lage der DDR eine maßgebliche Rolle gespielt. Die befürchtete geopolitische bzw. strategische Bedrohung durch ein mögliches Ausscheiden Polens aus dem Warschauer Pakt kann Gańczak durch verschiedene Quellen belegen.

Er kann nachweisen, dass Honecker zunächst hartnäckig versuchte, Moskau von der Notwendigkeit einer militärischen Intervention in Polen zu überzeugen. So werden auch die seit November 1980 laufenden Planungen der ostdeutschen Staats- und Armeeführung für eine Teilnahme der Nationalen Volksarmee an einer militärischen Operation auf dem polnischen Staatsgebiet detailliert beschrieben. Die sowjetische Führung entschied sich jedoch im Laufe des Jahres 1981 gegen eine militärische Intervention. Als Gründe hierfür nennt Gańczak vor allem die Sorge Moskaus, ein militärisches Eingreifen würde zu einer weiteren Zuspitzung des Ost-West-Konflikts und möglicherweise auch zu politischen und wirtschaftlichen Sanktionen durch westliche Staaten führen. Interessanterweise kursierten auch im DDR-Ministerium für Staatssicherheit ähnliche Bedenken. Unbegründet war dies nicht, denn immerhin hatten zahlreiche nationale Sportverbände als Reaktion auf den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan die Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau boykottiert. Angesichts sowjetischer Vorbehalte habe dann Honecker darauf gedrängt, die polnische Führung unter Druck zu setzen, die Krise aus eigener Kraft zu lösen. Den einzig verbliebenen Ausweg, gegen die Gewerkschaft Solidarność vorzugehen, habe Honecker seit Mitte des Jahres 1981 in der Ausrufung des Kriegsrechts gesehen, die jedoch erst am 13. Dezember 1981 erfolgte, nachdem General Wojciech Jaruzelski PVAP-Chef geworden war. Dieser Meinungsumschwung bei Honecker, der allerdings nicht als ein Strategiewechsel interpretiert werden sollte, wurde wesentlich von den Entscheidungen der sowjetischen Führung beeinflusst.

Vieles, was Gańczak ausführt, war bereits bekannt. [1] Sein Verdienst besteht insbesondere darin, bisherige Thesen und Darstellungen mit Primärquellen und einer schlüssigen Argumentation bestätigen zu können. Mitunter kann Gańczak das Bild über die kritischen 16 Monate in den Jahren 1980 und 1981 vervollständigen, wenn es um die Einschätzungen der ostdeutschen Führung über die Stimmung in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, in der polnischen Armee sowie in der polnischen Bevölkerung geht.

Allgemein stützt Gańczak das vorherrschende Bild Honeckers als eines dogmatischen Parteiführers, der insbesondere in außenpolitischen Entscheidungen stets das letzte Wort hatte. Kritiker seiner außenpolitischen Linie gab es - im Unterschied zu seinem sozial- und wirtschaftspolitischen Kurs - im Politbüro der SED offenbar nicht. Völlig zu Recht verweist er auf die von Honecker gesehene Gefahr, dass die Ereignisse in Polen auf die ostdeutsche Gesellschaft übergreifen könnten. Auf die Wirkungen, die davon auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der SED-Führung ausgingen, geht Gańczak leider nicht ein. Sie waren jedoch nachhaltig, denn sie beeinflussten die Entscheidungen des Staatsratsvorsitzenden für eine exzessive Sozialpolitik und gegen jegliche Erhöhung der Verbraucherpreise in der DDR. Die in Gdynia, Szczecin und Gdańsk im Sommer 1980 wie zuvor schon im Dezember 1970 als Folge drastischer Preiserhöhungen für Lebensmittel und andere Gebrauchsgüter ausgebrochene Streikwelle bildete für Honecker ein prägendes Menetekel. Seitdem lehnte er die vom Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer im SED-Politbüro wiederholt geforderten Änderungen der Preispolitik sowie Korrekturen in der Wirtschaftspolitik strikt ab. Die Vorstellungswelt Honeckers war in weitaus stärkerem Maße als die der anderen SED-Funktionäre von dem Glauben geprägt, durch Sozialpolitik Loyalität in der Bevölkerung und damit politische Stabilität des Systems erzeugen zu können.

Filip Gańczak hat eine lesenswerte Darstellung über den Prozess der Entscheidungsfindung im SED-Politbüro während der "polnischen Krise" 1980/81 vorgelegt, die aufschlussreiche Einblicke in die Denk- und Handlungsweisen polnischer und sowjetischer Spitzenpolitiker ermöglicht. Über die Bestätigung bekannter Erkenntnisse hinaus enthält das Buch zahlreiche aufschlussreiche Details über das Handeln der SED-Führung.


Anmerkung:

[1] Vgl. insbesondere Michael Kubina / Manfred Wilke (Hgg.): "Hart und kompromißlos durchgreifen." Die SED contra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995.

Rezension über:

Filip Gańczak: "Polen geben wir nicht preis". Der Kampf der DDR-Führung gegen die Solidarnosc 1980/81, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, XXV + 380 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-70428-3, EUR 78,00

Rezension von:
Andreas Malycha
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Malycha: Rezension von: Filip Gańczak: "Polen geben wir nicht preis". Der Kampf der DDR-Führung gegen die Solidarnosc 1980/81, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/04/34386.html


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