Rezension über:

Pierre-Benoît Roumagnou: Dans l'orbite de Paris. Les habitants de la banlieue et la justice (v. 1670 – v. 1789) (= Histoire des temps modernes; 8), Paris: Classiques Garnier 2020, 312 S., zahlr. Tbl., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-2-406-10373-8, EUR 39,00
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Rezension von:
Isabelle Deflers
Historisches Seminar, Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Isabelle Deflers: Rezension von: Pierre-Benoît Roumagnou: Dans l'orbite de Paris. Les habitants de la banlieue et la justice (v. 1670 – v. 1789), Paris: Classiques Garnier 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 9 [15.09.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/09/35205.html


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Pierre-Benoît Roumagnou: Dans l'orbite de Paris

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Der französische Frühneuzeit-Historiker Pierre-Benoît Roumagnou hat sich in verschiedenen Beiträgen sowohl mit der Polizeieinheit beschäftigt, die in Paris für die Kontrolle der Schänken (guinguette) zuständig war, und diese in den Zusammenhang mit der Wirtschaftsentwicklung in der Umgebung von Paris gestellt, als auch mit der Gewalt in den Pariser Vorstädten im 17. und 18. Jahrhundert. Weitere Studien betrafen die Abfallentsorgung der Stadt Paris in dessen Umgebung. In seiner neuesten Arbeit über die Wechselwirkungen zwischen Paris und seinen Vorstädten gilt sein Interesse den Beziehungen der Menschen im Pariser Umland zur königlichen und (grund)herrschaftlichen Strafjustiz im 17. und 18. Jahrhundert.

Seine Untersuchung befindet sich thematisch an der Schnittstelle zwischen der Institutionsgeschichte, der Geschichte des Strafverfahrens nach der königlichen strafrechtlichen Ordonnanz von 1670 unter der besonderen Berücksichtigung der Sozialgeschichte der Justiz sowie der Verhältnisse Stadt-Land. Dabei stellt Roumagnou die Frage, inwiefern sich das Verhältnis der Untertanen in der Pariser Umgebung zu den Institutionen der Justiz, zu den Strafrechtsverfahren und zum Justizpersonal von 1670 bis zum Ausbruch der Französischen Revolution u.a. angesichts des demographischen Wachstums Paris geändert hat. Die Idee ist gut, die Realisierung allerdings ein bisschen enttäuschend, dies sei schon einmal vorab festgestellt.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Zuerst wird das herrschaftliche Kriminaljustiz-System in den Vorstädten im Westen von Paris, die heutzutage die 15. und 16. Arrondissements umfassen, erläutert. Hier werden für die damalige Zeit typische Kompetenzstreitigkeiten der Gutsherren untereinander bzw. von deren Personal über die Grenzen ihrer Zuständigkeitsgebiete skizziert: Aus diesen Ausführungen geht allerdings nichts Spezifisches für die Vorstädte von Paris hervor, da es solche Kompetenzstreitigkeiten immer und überall in der Vormoderne gegeben hat.

Weiter geht es mit den Kontakten zwischen den Vorstadtbewohner*innen und den Justizsystemen durch die verschiedenen Rechtsgeschäfte, die Geschäftsstelle für die Urkunden, aber auch durch Orte wie das Gefängnis. Besonders deutlich werden hier die Nähe des Justizpersonals zur Bevölkerung und die Bemühungen um eine gute, ordentliche Rechtsprechung. Diesen Befund hebt Roumagnou überzeugend hervor, so auch im nächsten Kapitel über die verschiedenen Vertreter des Justizpersonals.

Ab dem zweiten Hauptteil der Studie verfährt der Verfasser chronologisch: vom Verbrechen bis zu dessen Eintragung durch die Justiz im Strafregister; dann im dritten und letzten Teil: von der Untersuchung zum Prozess bis hin zu den verschiedenen Beendigungsmöglichkeiten des Strafverfahrens. Hier erklärt Roumagnou ausführlich die verschiedenen Etappen des Strafprozesses anhand von zahlreichen Details aus seinen Quellen. Die Menge der vom Autor konsultierten Archivbestände ist beeindruckend, aber die Fülle an Schlussfolgerungen, die daraus hätten gezogen werden können, ist nicht ausgeschöpft worden bzw. beendet der Autor seine Ausführungen oft abrupt, ohne dass der Sinn seiner Aussage deutlich wird (so u.a. 130). Aber problematischer für das Thema insgesamt ist die Tatsache, dass sich mehrmals im Laufe der Lektüre die Frage stellt, inwiefern die rekonstruierten Situationen spezifisch für die ausgewählten Pariser Vorstädte sind. Das fragt sogar der Verfasser selbst (159). Schließlich erfüllen die letzten Sätze des Schlusswortes nicht die Erwartungen, die in der Einleitung geweckt wurden. Suggeriert wurde nämlich, dass die Nähe zu der wachsenden Hauptstadt Paris einzigartige Beziehungsmerkmale der Vororte zur Strafjustiz sowohl des Königtums als auch ihrer Gutsherren hervorgebracht hätte; der Beweis hierfür wird nicht erbracht.

Dennoch ist es Roumagnou gelungen zu zeigen, dass die Opposition zwischen den Bewohner*innen der Region Île-de-France und den ländlichen Eliten ein soziologischer Befund des 20. Jahrhunderts ist, dem die Nähe des Justizpersonals zu den Rechtssubjekten widerspricht, was die Transposition dieser Gegensätze ins 17. und 18. Jahrhundert anachronistisch macht. Insgesamt liefert das Buch einen anschaulichen Einblick in die vormoderne Strafpraxis und zeigt, wie sehr die Kriminalordonnanz von 1670 zumindest formell doch respektiert wurde. Auf einer sozialhistorischen Ebene wird deutlich gezeigt, wie sehr der soziale Aufstieg des Justizpersonals mit Blick auf Paris geschah, was über die damalige französische Monarchie hinaus und allen Dezentralisierungsbestrebungen zum Trotz die Anziehungskraft der Hauptstadt bis heute ausmacht.

Isabelle Deflers