Rezension über:

Marcel Bois: Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition. Die »Gleichschaltung« der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg (1933-1937), Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2020, 216 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-7799-6266-3, EUR 29,95
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Rezension von:
Adrian Weiß
Leipzig / Kassel
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Adrian Weiß: Rezension von: Marcel Bois: Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition. Die »Gleichschaltung« der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg (1933-1937), Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 2 [15.02.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/02/35428.html


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Marcel Bois: Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition

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Die Studie von Bois ist das Resultat eines langen Streites, der innerhalb der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nun schon seit Jahrzehnten geführt wird. Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war 2017, als der GEW-Studierendenausschuss im Hauptvorstand die Umbenennung der GEW-Stiftung sowie eine offene Debatte über die Aufarbeitung der Geschichte verlangte und diese Forderung auch medial Aufmerksamkeit fand. Beides unterblieb bisher, es wurde aber eine Forschungsgruppe eingesetzt, die bisherige Streitthemen wissenschaftlich einordnen soll. Die dabei alle Gemüter erhitzende Frage lautet: Ist der erste Vorsitzende der GEW, Max Traeger, Namensgeber der gewerkschaftseigenen Stiftung, auch für heutige Generationen als Vorbild zu verstehen, wie es de Lorent implizit formuliert? [1] Kritikerinnen und Kritiker führen dagegen an, dass Traeger zu der langen Reihe altverdienter Verbands- und Gewerkschaftsfunktionäre zu zählen ist, die 1933 "umfielen" und sich dem neuen Regime durch vorauseilende Anpassung anbiederten.

Traeger wurde in bisherigen Veröffentlichungen sogar ein Anteil an der "Renazifizierung" der Bundesrepublik nach 1945 vorgeworfen, indem die GEW suspendierten Nationalsozialisten gewerkschaftlichen Rechtsschutz gewährte, sodass diese wieder in den Schuldienst aufgenommen wurden. [2] Natürlich handelt es sich bei der Person Traeger gewissermaßen um einen Stellvertreterkrieg um alle möglichen Aspekte der Aufarbeitung der Geschichte der GEW. Diese erinnerungspolitisch hoch relevante Forschungsfrage liegt klar auf der Hand, dennoch umschifft Bois diese und stellt in seiner Studie die "Gleichschaltung" des Hamburger Vorgängerverbandes durch den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) ins Zentrum. Hierbei verweist er vor allem auf die wenig aussagekräftige Quellenlage zu Traegers Rolle in der Zeit von 1933 bis 1945. Dies ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht verständlich. Warum er dabei aber nicht auf die breite Quellenlage nach 1945 eingeht, in der Traeger nachgewiesenermaßen unter anderem das 1935 arisierte Nachbargebäude Rothenbaumchaussee 19 als "Judengrundstück" bezeichnete, dessen Inbesitznahme durch den NSLB er dann auch noch legitimierte, erschließt sich dem interessierten Leser nicht. [3]

Die Rolle Traegers, die für eine neue Bewertung der Streitfrage nach dem Stiftungsnamen wichtig wäre, wird also nicht beleuchtet. Doch für die Annäherung an die bisher umstrittene Frage der "Gleichschaltung" gibt Bois' Arbeit neue Aufschlüsse. Sie setzt dort an, wo vorherige Forschungen nicht weiterkamen. Außerdem liefert er eine neue Antwort auf die Frage, ob sich Traeger unter anderem an einem vermeintlichen Untergrundvorstand beteiligte.

Der Fokus der Studie richtet sich somit auf eine Neubewertung der "Gleichschaltung" der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens (GdF). Dafür rekonstruiert Bois geschickt die Ereignisse. Seine ausgewogene Interpretation der damaligen Handlungsoptionen ist überzeugend: Der Autor stützt sich hierbei vor allem auf den Aktenbestand der GdF im Staatsarchiv Hamburg. Außerdem hatte er Zugriff auf das nicht öffentliche Archiv der GEW Hamburg, in dem auch der persönliche Nachlass Traegers aufbewahrt wird. Diese Quellenbasis setzt er ins Verhältnis zu reichsweiten Entwicklungen unter anderem des Deutschen Lehrervereins (DLV) und des NSLB, welche er durch die Einsicht in deren Bestände im Bundesarchiv und Periodika rekonstruiert.

Bis heute steht am Hamburger Curiohaus auf einem Schild, die GdF sei 1933 "zwangsweise" in den NS-Lehrerbund eingegliedert worden. Der lauteste Kritiker dieser Behauptung, der Frankfurter Professor Benjamin Ortmeyer, geht viel eher von einem vorauseilenden und freiwilligen "Überlaufen" der GdF in den NSLB aus.

Bois schließt sich zwar nicht dieser These an, betont aber die angepasste und anbiedernde Rolle der GdF-Funktionäre, die ihren seit 1805 bestehenden Verband nach wenigen Monaten NS-Herrschaft ohne Widerstand einem neuen nationalsozialistisch dominierten Vorstand überließen. War der Verband vor 1933 NS-kritisch eingestellt gewesen, so unterschätzte er danach die Gefahr, die von der NSDAP ausging, und kommunizierte sogar verständnisvoll mit nationalsozialistischen Bildungspolitikern wie Albert Mansfeld. Insgesamt sei der Umgang mit den neuen Machthabern vor der "Gleichschaltung" als sorglos einzustufen.

Dabei hätte es auf der entscheidenden Versammlung am 27. April 1933 durchaus die Möglichkeit gegeben, gegen den Eintritt der GdF in den NSLB zu stimmen oder sich zumindest lautstark dagegen auszusprechen, wie dies der Kommunist Rudolf Klug tat. Doch die delegierten GdF-Mitglieder stimmten mit großer Mehrheit für die Eingliederung in den NSLB, nachdem sich zuvor die Funktionärsriege auf der Versammlung dafür ausgesprochen hatte. Bois kontrastiert diese freiwillige Unterwerfung mit der parallel verlaufenden Selbstauflösung des Bremischen und Sächsischen Lehrerverbandes, die der Eingliederung in den NSLB so zuvorkamen.

Durch vorauseilende Fürsprache für die De-facto-Auflösung und die Eingliederung in den NSLB durch ehemalige Funktionäre wie Traeger und Küchler wurde es den Nationalsozialisten wesentlich leichter gemacht, sich Verbände wie die GdF einzuverleiben. Man kann ihnen aufgrund dieses Befundes nicht den Vorwurf machen, sie hätten aktiv nationalsozialistische Politik betrieben. Jedoch ebneten sie den neuen Machthabern den Weg zur totalen Herrschaft. Hatte der GdF 1920 im Zuge des Kapp-Putsches noch gestreikt, um ein autoritäres Regime zu verhindern, überließ man nun den Nationalsozialisten kampflos das Feld. Somit lässt sich Bois' Rekonstruktion als zwingende Aufforderung lesen, die 1988 am Curiohaus angebrachte Tafel durch einen anderen Wortlaut zu ersetzen.

Weniger eindeutig fällt Bois' Befund aus, ob es zwischen 1933 bis 1945 einen "geheimen Untergrundvorstand" der GdF gegeben habe. Diese These stellt der ehemalige Hamburger GEW-Vorsitzende de Lorent auf, dessen Veröffentlichungen zum Sachverhalt als insgesamt apologetisch einzuordnen sind. Der Untergrundvorstand habe sich einigen Zeitzeugenberichten zufolge, die allesamt nach 1945 entstanden, vierzehntägig in Gaststätten getroffen und dabei den Kontakt zwischen den ehemals liberalen und sozialdemokratischen Funktionären aufrechterhalten. Politisch aktiv im Sinne eines politischen Widerstandes wurde dieser Kreis allerdings nie. Bois vermutet lediglich den Kontakt zur liberalen Robinsohn-Strassmann-Gruppe; eine Verbindung, die sich freilich schwierig nachweisen lässt.

Zwar wird diese Art des Kontakthaltens unter alten Verbandskollegen, bei dem vermutlich missmutig über die Politik des NS-Regimes gesprochen wurde, unter anderem durch die Definition des Dokumentationszentrums österreichischer Widerstand als "eine Art des Widerstandes" interpretiert - eine Einschätzung, welcher sich Bois anschließt. Gerade bei solchen Funktionären, die ihren eigenen Verband in vorauseilendem Gehorsam den Nationalsozialisten überlassen haben, die Zusammenkünfte beim Skatspiel als widerständige Tätigkeit zu deklarieren, erscheint bei der Lektüre aber doch zu blauäugig.

Der weiteren Diskussion und Forschung liefert Bois allerdings viele wertvolle Einzelbefunde, durch die vor allem die Thesen von de Lorent widerlegt werden. So rekonstruiert er den letzten Vorstand der GdF vor der "Gleichschaltung", in dem nicht, wie de Lorent behauptet hatte, Antifaschisten dominierten. Auch die Lebenslüge Traegers, er habe nach der "Gleichschaltung" der GdF das Curiohaus bis 1945 nicht mehr betreten, entkräftet der Autor: Dessen Vater feierte im November 1935 sein Firmenjubiläum im Curiohaus, den Kontakt hatte höchstwahrscheinlich sein Sohn Max hergestellt. Es muss also davon ausgegangen werden, dass das NSLB-Mitglied Traeger auch nach 1933 noch gute Kontakte ins Curiohaus pflegte. Letztlich überlässt es Bois den Gewerkschaftsaktiven, die Schlussfolgerungen aus seiner Studie herauszuschälen und bewahrt somit politisch Distanz zum Geschehen.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Studie eine methodisch saubere Forschungsarbeit, deren Lektüre auch für Laien aufschlussreich ist. Es ist zu hoffen, dass die vorliegende Arbeit nicht den Deckel über diesem gewerkschaftshistorisch brisanten Kapitel schließt, sondern dass weitere Studien die nun auf noch breiterer Basis stehende Debatte bereichern werden.


Anmerkungen:

[1] Hans-Peter de Lorent: Max Traeger. Biographie des ersten Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (1887-1960), Weinheim 2017.

[2] Micha Brumlik / Benjamin Ortmeyer (Hgg.): Max Traeger - Kein Vorbild. Person, Funktion und Handeln im NS-Lehrerbund und die Geschichte der GEW, Weinheim 2017.

[3] Ein Faksimile des brisanten Briefes von Traeger von 1954 findet sich in Bernhard Nette / Stefan Romey: Die Lehrergewerkschaft und ihr "Arisierungserbe": Die GEW, das Geld und die Moral, Hamburg 2010, 93.

Adrian Weiß