Rezension über:

Christoph Meißner / Jörg Morré (eds.): The Withdrawal of Soviet Troops from East Central Europe. National Perspectives in Comparison, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 321 S., ISBN 978-3-525-31127-1 , EUR 60,00
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Rezension von:
Christian Th. Müller
Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Christian Th. Müller: Rezension von: Christoph Meißner / Jörg Morré (eds.): The Withdrawal of Soviet Troops from East Central Europe. National Perspectives in Comparison, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/36470.html


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Christoph Meißner / Jörg Morré (eds.): The Withdrawal of Soviet Troops from East Central Europe

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Über den Niedergang und Sturz der staatssozialistischen Regime in Ostmitteleuropa sowie die Auflösung der Sowjetunion ist in den vergangenen drei Jahrzehnten viel geschrieben worden. Die sich daraus ergebenden sicherheitspolitischen Konsequenzen und insbesondere die mit dem Abzug der sowjetischen beziehungsweise russischen Streitkräfte aus Ostdeutschland, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn sowie den unabhängig gewordenen Sowjetrepubliken verbundenen Probleme und Konflikte haben demgegenüber deutlich weniger Aufmerksamkeit in der historischen Forschung gefunden.

Wie die beiden Herausgeber Christoph Meißner und Jörg Morré vom Deutsch-Russischen Museum hervorheben, soll der vorliegende Sammelband eine übergreifende historische Retrospektive dieses Themenkomplexes für Mittel- und Osteuropa bieten. Ursprünglich sollte der Band die Ergebnisse einer für März 2020 am Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, dem DHI Moskau, dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr sowie dem Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen geplanten Konferenz zusammenfassen. Angesichts der pandemiebedingten Veranstaltungs- und Reisebeschränkungen konnte die Tagung jedoch nicht realisiert werden. Stattdessen wurden die Referentinnen und Referenten aufgefordert, ihre insgesamt 17 Beiträge ohne vorherige Diskussion schriftlich einzureichen.

Die so entstandenen Aufsätze sind insgesamt vier Themenkomplexen zugeordnet. Zunächst werden Vorgeschichte und politischer Kontext des Truppenabzuges thematisiert. Tim Geiger beschreibt in seinem Aufsatz die militär-strategischen Hintergründe des internationalen Wandels zwischen 1985 und 1991. Der Beitrag von Hans-Henning Schröder und Christoph Meißner betrachtet die Rolle von Michail Gorbatschows "Neuem Denken" und dessen Auswirkungen auf die sowjetische Außen- und Sicherheitspolitik. Im Anschluss daran versuchen Markus Mirschel und Michael Galbas die Rolle der mehr als 600.000 sowjetischen Afghanistan-Veteranen als "Transformation Accelerators" (61) zu belegen. Schließlich gibt Christoph Meißner am Beispiel der Auflösung der Sowjetarmee einen interessanten Einblick in die konfliktträchtige Suche nach einer neuen Sicherheitsarchitektur für Osteuropa.

Die sechs Aufsätze des zweiten Teils sind dem Abzug der sowjetischen beziehungsweise russischen Streitkräfte aus Deutschland gewidmet. Dazu untersucht Matthias Uhl zunächst die gewandelte Rolle der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen in der sowjetischen Verteidigungsstrategie Ende der 1980er Jahre. Die folgenden drei Aufsätze von Alexei Sindeyew, Christoph Meißner und Christoph Lorke behandeln dann aus leicht unterschiedlichen Blickwinkeln Aushandlung, Umsetzung und Wahrnehmung des sowjetischen Truppenabzuges, während Sascha Gunold - gleichsam in einem Exkurs - auf die Arbeit der bundesdeutschen Auslands- und Militärnachrichtendienste während des sowjetischen Truppenabzuges eingeht. Den Abschluss bilden die Ausführungen von Markus Hennen zu den ebenso großen wie langfristigen Herausforderungen des Konversionsprozesses im Land Brandenburg.

Im Vergleich zu den ersten beiden Teilen des Bandes, die für das deutsche Lesepublikum bei zahlreichen Redundanzen, abgesehen von einigen Details, nur wenig wirklich neue Erkenntnisse bereithalten, sind die den ostmitteleuropäischen Staaten und den vormaligen Sowjetrepubliken gewidmeten Teile 3 und 4 deutlich interessanter. David Kiss, Barnabas Vajda und Agnieszka Kastory betrachten dazu jeweils den Abzug der sowjetischen beziehungsweise russischen Streitkräfte aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen. In allen drei Fällen wurden die Verhandlungen um die Modalitäten des Truppenabzuges ebenso wie das künftige Verhältnis zu Russland durch die Negativerfahrungen mit der sowjetischen Hegemonialpolitik geprägt.

Besonders schwierig gestalteten sich die Verhandlungen mit Polen, das seine Forderungen zeitweise durch Behinderung des Transits der aus Deutschland abziehenden Truppen und Unterbrechung der Energieversorgung für die noch in Polen befindlichen sowjetischen Garnisonen durchzusetzen versuchte. In der Folge kam es im Winter 1990/91 zu einer veritablen diplomatischen Krise. An deren Ende hatte sich die polnische Regierung nicht nur nicht durchgesetzt, sondern sah sich überdies öffentlich mit dem Vorwurf der Obstruktion konfrontiert.

Die vier Aufsätze des vierten und letzten Teils betrachten den Abzug der nunmehr russischen Truppen aus den baltischen Staaten, Georgien und Moldawien. Während Sophie Momzikoff sich mit dem russischen Truppenabzug aus den baltischen Staaten 1992 bis 1994 und seinen komplizierten Rahmenbedingungen beschäftigt, blicken Dovile Jakniunaite und Valentinas Berziunas auf die Beziehungen zu Russland nach der erlangten baltischen Unabhängigkeit. Den Abschluss bilden die Beiträge von David Darchiashvili und Michael Machavariani sowie Nadja Douglas und Simon Muschik über Georgien und Moldawien, wo aufgrund der "eingefrorenen Konflikte" um Abchasien, Südossetien und Transnistrien nach wie vor russische Truppen präsent sind.

Gemeinsam ist diesen vier Aufsätzen, dass sie sehr interessante Einblicke in die komplexe Gemengelage von nationalen Traumata einerseits und nationalistischen Politiken der "Derussifizierung" andererseits, der möglichen Rolle der russischen Minderheiten sowie der in den 1990er Jahren ganz offenkundigen Instabilität des russischen Staates und seiner Streitkräfte geben. Damit verbunden war immer auch die Frage nach der künftigen Sicherheitsarchitektur nicht nur im östlichen, sondern im ganzen Europa. Hier ist das Buch höchst aktuell, zeigt es doch sehr anschaulich, dass ein Großteil der sich heute im Verhältnis des Westens zu Russland manifestierenden Konfliktpotentiale bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre virulent war und durchaus auch problematisiert wurde. Insofern bietet der vorliegende Band für die sicherheitspolitische Debatte wertvolle Erinnerungshilfen und Denkanstöße.

Christian Th. Müller