sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8

Yossi Maurey: Liturgy and Sequences of the Sainte-Chapelle

Bevor Ludwig IX. in den Jahren 1239-1242 die Dornenkrone Christi und weitere 22 Reliquien vom Kaiser von Konstantinopel erwerben konnte, fungierte Paris zwar als Sitz von König, Verwaltung und Universität, entbehrte jedoch einer auch international anerkannten Sakraltopographie, wie sie in Jerusalem, Konstantinopel, Rom oder auch Santiago de Compostela zu finden war. Paris wurde als unangefochtenes administratives und intellektuelles Zentrum des Königreichs, das die besten Kleriker, Lehrer und Studenten anzog, gleichermaßen gehasst wie bewundert. Was fehlte, war Heiltum von überregionaler, weit ausstrahlender Relevanz. Mit der Ankunft der Dornenkrone im Jahr 1239 sollte sich dies ändern. Paris wurde zu einer Sakralstadt, in der sich ab 1248 mit der Sainte-Chapelle ein Symbol steingewordener reliquiarer Macht des französischen Königs erhob. Bullen, Privilegien und Ablässe von Bischöfen und Päpsten stützten diese Entwicklung.

Der Prämisse folgend, dass "relics could not accomplish much without being "activated" in one way or the other" (16), richtet die vorliegende Qualifikationsarbeit von Yossi Maurey das Augenmerk auf eine besondere, im Falle der Sainte Chapelle jedoch überaus wichtige Form der "Reliquienaktivierung": auf die für diesen Kirchenraum und die in ihm entfaltete Liturgie entstandenen Sequenzen. 21 einschlägige Sequenzen sind insgesamt erhalten. Sie hatten ihren liturgischen Ort zwischen dem Alleluja und der Evangelienlesung, konnten innerhalb des Stundengebets aber auch als Hymnenersatz während der Vesper dienen. Maurey ist unbedingt zuzustimmen, wenn er in Sequenzen "nuanced interpretations of the conceptual, religious, and national foundations of the Sainte Chapelle" (21) erblickt.

Viel ist in den vergangenen Jahren zur an der Sainte Chapelle entfalteten Liturgie geforscht worden. Vorliegende Arbeit tritt bewusst in einen konstruktiven Dialog mit den vielen Beiträgen, die Cecilia Gaposchkin zuletzt zur Thematik verfasst hat. [1]

Die Arbeit ist in zwei große Teile gegliedert, in denen die beiden wichtigsten in der Kapelle gefeierten Reliquienfeste behandelt werden: das Fest der Dornenkrone (11. August) und das Fest der Ankunft der Reliquien (receptio reliquiarum) (30. September).

Als Hauptquelle dient die Handschrift Bari 5, entstanden für die von Karl I. von Anjou gegründete Sainte Chapelle in Bari (S. Niccolò). Sie besteht aus zwei Bänden, deren erster, nach 1257 verfasst, 190 Sequenzen enthält, davon 156 für das Sanctorale. Von diesen wiederum stehen 23 - zumeist unica - in enger (liturgischer) Beziehung zur Pariser Sainte Chapelle. [2]

21 Sequenzen insgesamt sind für die Dornenkrone und die Reliquien überliefert, 19 allein in ms. Bari 5. Lediglich fünf Sequenzen weisen eigene Melodien auf, für den Rest verwendete man bereits bestehende Melodien anderer Stücke (Kontrafaktur). Von großem Interesse ist die Feststellung, dass Polyphonie im Raum der Sainte Chapelle im 13. Jahrhundert nicht zur Aufführung kam - anders als in der benachbarten Kathedrale, wo in dieser Zeit Hunderte von Motetten, Clausulae und Conductus verfasst bzw. komponiert wurden, die z.T. bereits einzelnen Komponistenpersönlichkeiten zugewiesen werden können. Die in der und für die Sainte Chapelle entstandenen Sequenzen hingegen wurden anonym verfasst und einstimmig musiziert.

Die zentrale Thematik der Sequenzen ist der Sieg Christi über den Tod. In der Sequenz Solemnes in hac die wird dies besonders eindrücklich vor Augen geführt: Mors est his absorta in victoria. Celi patet porta prius invia. Predam, per hec fracta, reddunt inferna. Estque mundo facta salus eterna. (Durch sie [gemeint sind die Passionsreliquien Christi] wird der Tod in Sieg verkehrt. Die Himmelstür, zuvor verschlossen, steht nun offen. Die Höllentore, durch sie zerbrochen, geben ihre Beute wieder her. Ewiges Heil ist der Welt zuteilgeworden) (122). In der Sequenz Dyadema salutare liest sich dies noch eindrücklicher und knapper: Vita redit, mors moritur (Das Leben kehrt wieder, der Tod stirbt) (95).

Ein weiteres zentrales Motiv ist der Übergang vom Alten hin zu den Verheißungen des Neuen Testaments, ein Motiv, das sich auch in der Farbverglasung der Sainte-Chapelle widerfindet, mittels derer der Zeitraum von der Erschaffung der Welt (Genesis) bis zur Apokalypse im Medium des Bildes beschrieben wird. Die große Westrose mit der Darstellung der Apokalypse bildet dabei nicht nur den chronologischen Abschluss des Bildprogramms, sondern verweist selbst auf die Dornenkrone, die, wie in Letetur felix Gallie betont, am Ende der Zeiten "von ihrem Aufbewahrungsort ... hin zum Richterstuhl" überführt werden wird: Que civitatis gloria, cum ab eius custodia deferetur hec laurea, in manibus angelicis ante tribunal iudicis (829). In Cum tremore exulta liest sich dies wie folgt: Testamenti novi et gratie sanguis fusus traxit miserie nos de lacu, verbo Zacharie hoc notatur (137). Christi Blut wird zum Garanten dafür, die Menschheit aus dem "See des Elends" zu befreien. Das Erlösungswerk des Neuen Testaments ersetzt das Alte Testament.

Wenig überraschend nehmen Frankreich im Allgemeinen, die Stadt Paris im Besonderen einen prominenten Platz vor allem in den Dornenkronen-Sequenzen ein. Betont wird dabei, Christus habe Frankreich und Paris als Aufbewahrungsstätte "seiner" Reliquien selbst auserwählt. Die Sequenz Regis et pontificis unterstreicht: Hanc coronam hodie nostre confert Gallie rex misericordie, während in Si vis vere betont wird: Nobis est hystoria qua patenter Francia coronatur hodie (38) und Gaude, Syon davon spricht, dass hec corona...regnum invictum Gallie sublimatur (63). Gens Gallorum wird noch deutlicher: die Dornenkrone gelangt nach Frankreich, in ein Land latrie terram propriam (88), bewohnt von einer plebs gratie singularis (89).

Einige Anhänge dienen der Tiefenerschließung der Ausführungen im Hauptteil. Neben ausführlichen Beschreibungen der Hauptquellen für die in der Sainte Chapelle gefeierte Liturgie (appendix 1), finden sich Tabellen mit den Handschriften, die die Sequenzen zum Dornenkronenfest (appendix 3) bzw. zum Reliquienfest (appendix 4) enthalten. Die Synopsen in den Appendices 5 und 6 ermöglichen das rasche vergleichende Erfassen der Inhalte der Sequenzen (spiritual theme / contrafact source / references to Paris/France / dissemination). Die Edition (samt Übersetzung) der Historia susceptionis coronae spineae des Gautier Cornut (in der Überlieferung des Offiziums aus Sens) (appendix 7) ist zwar eine willkommene Zugabe, aber eigentlich unnötig, steht doch seit 2019 eine entsprechende, leicht zugängliche zweisprachige Ausgabe zur Verfügung. [3] Die Lektionen für den Festtag der receptio reliquiarum werden (auf Grundlage von Brüssel IV.472, fol. 35r-49v) ebenfalls im lateinischen Original mit einer englischen Übersetzung präsentiert (appendix 8).

Auch diese solide gearbeitete, (liturgisches) Neuland erschließende Arbeit hinterfragt manche der Forschung liebgewordene Sachverhalte nicht mehr. Dass die Passionsreliquien "for an exorbitant price" (15) erworben worden sein müssen, scheint noch immer allgemeiner Konsens innerhalb der Forschung zu sein. Die hier nicht rezipierten Arbeiten von Peter Kováč haben freilich schon seit längerem gezeigt, dass sich der französische König in dieser Angelegenheit weiser als allgemein vermutet gezeigt und sein Königreich durch den Reliquienerwerb nicht in die finanzielle Bewegungsunfähigkeit hineinmanövriert hat. [4]

Der Arbeit gelingt es, Texte und Melodien der Sequenzen interpretatorisch miteinander zu verbinden und zum Sprechen (bzw. zum Klingen) zu bringen. Dass die Sequenzen ins Englische übersetzt wurden, erleichtert das Erfassen der mitunter stark komprimierten lateinischen Inhalte.

Eine bemerkenswerte Arbeit, die einmal mehr zeigt, worin das Geniale des Reliquienerwerbs durch Ludwig IX. lag: Durch die Präsenz der Dornenkrone und weiterer (Passions)Reliquien in Paris wurde Frankreich zur terra promissionis, der französische König zur zentralen Figur innerhalb der Heilsgeschichte.


Anmerkungen:

[1] V. a. Cecilia Gaposchkin: Vexilla Regis Glorie. Liturgy and Relics at the Sainte Chapelle in the Thirteenth Century (Sources d'Histoire Médiévale; 46), Paris 2021.

[2] René-Jean Hesbert: Le Prosaire de la Sainte Chapelle. Manuscrit du chapitre de Saint-Nicolas de Bari (vers 1250) (Monumenta Musicae Sacrae; 1), Mâcon 1952.

[3] Cecilia Gaposchkin: Between Historical Narration and Liturgical Celebrations. Gautier Cornut and the Reception of the Crown of Thorns in France, in: Revue Mabillon 91 (2019), 91-145.

[4] Kováč, Peter: Kristova trnová koruna (Paříž, Sainte-Chapelle a dvorské umění Svatého Ludvíka) (Stavitelé Katedrál; 2), Prag 2009; Kováč, Peter: Die Dornenkrone Christi und die Sainte-Chapelle in Paris. Der wahre Preis der Dornenkrone Christi, Konsekrationsdatum der Kapelle und festliche Beleuchtung der Sainte-Chapelle, in: Umění art 59 (2011), 462-485.

Rezension über:

Yossi Maurey: Liturgy and Sequences of the Sainte-Chapelle. Music, Relics, and Sacral Kingship in Thirteenth-Century France (= Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages; Vol. 35), Turnhout: Brepols 2021, 247 S., 4 Farbabb., 27 Tbl., ISBN 978-2-503-59105-6, EUR 80,00

Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Yossi Maurey: Liturgy and Sequences of the Sainte-Chapelle. Music, Relics, and Sacral Kingship in Thirteenth-Century France, Turnhout: Brepols 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/07/36811.html


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