Irene Ewinkel: De monstris: Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts (= Frühe Neuzeit; Bd. 23), Tübingen: Niemeyer 1995, 398 S., ISBN 3-484-365234, DM 132,00
Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 1999, S. 162-163
Rezensiert von:
Waltraud Pulz
Im Mittelpunkt dieser kunstgeschichtlichen Dissertation stehen die gelehrten zeitgenössischen Deutungen, welche die sogenannten Miß- und Wundergeburten auf illustrierten Flugblättern der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfuhren. Nach einleitenden Bemerkungen über Aufbau und Typen der Monstraflugblätter arbeitet die Autorin unter Einbeziehung der einschlägigen Traktatliteratur vier Diskurse heraus, denen sie je einen Hauptabschnitt ihrer Studie widmet: Sie unterscheidet zwischen einem theologischen, einem gesellschaftspolitischen und einem naturkundlichen Diskurs sowie einem "Geschlechterdiskurs". Im Kapitel, das den theologischen Diskurs betrifft, geht Ewinkel insbesondere auf die kompensatorische Funktion protestantischer Prodigiendeutung (Ersatz für den katholischen Wunderglauben) ein. Der zweite Hauptabschnitt beginnt mit einer Erläuterung der Methode der Allegorese; im Anschluß befaßt sich die Verfasserin mit der Auslegung der Monstra nach dem vierfachen Schriftsinn, insbesondere mit ihrer tropologisch-moralischen Deutung als Lasterabbilder. Ein derartiges Verständnis stand weder einer umfassenderen eschatologischen Interpretation noch einer Analogiebildung zwischen Monstrum und politischem Körper entgegen. Die Unordnung in der Natur spiegelte die gesellschaftliche Unordnung, die Monstra waren göttlich gesandte Mahnzeichen, mit ihrer Deutung und Veröffentlichung verbanden sich sozialdisziplinierende Absichten. Was das Flugblatt als Medium im naturkundlichen Diskurs angeht, so hebt die Autorin vor allem die theologisch-naturkundliche Kontroverse über die Ursache der Monstra hervor: Während die Teratologen an einer Systematik der Formen von Mißbildungen interessiert waren, sahen die Theologen hierin einen Angriff auf ihre Deutung der Monstra als Prodigien. Der Konflikt konnte zumeist durch die Unterscheidung von untergeordneten und übergeordneten Ursachen 'gelöst' werden, eine Trennung, auf deren Basis sich die modernen Naturwissenschaften entwickelten. Sehr ausführlich befaßt sich die Autorin zuletzt mit dem Geschlechterdiskurs, den sie anhand der Theorie von der Macht der mütterlichen Einbildungskraft und deren gesellschaftlicher, für die Frauen disziplinierender Konsequenzen wie auch anhand der zeitgenössischen Hexendiskussion beleuchtet. Aufgezeigt werden die Privilegien wie vor allem auch die Beschränkungen, die mit der Auffassung von Mißbildungen als Resultat weiblicher Imagination verbunden waren. Hervorgehoben wird weiterhin, daß die Monstra im 16. Jahrhundert keineswegs als Teufelswerk oder Ergebnisse von Hexenzauber galten, sondern allein auf die göttliche Macht zurückgerührt wurden, eine Auffassung, von der dann auch die Diskussion hinsichtlich ihrer Tauffähigkeit zeugt.
Mit drei Beispielen für eine interessegeleitete, immer wieder aufgenommene und in aktuelle Deutungszusammenhänge gestellte Interpretation einiger Monstra beendet Ewinkel ihre Darstellung. Dieser kommt weniger das Verdienst von im einzelnen neuen Thesen zu, sondern von deren differenzierter, auf das Thema 'Wundergeburt' ausgerichteter Zusammenschau. Selbst wenn die Verfasserin damit über die immer wieder auf retrospektive Diagnosen abhebenden Kommentare von Ulla-Britta Kuechen in den einschlägigen Editionen hinausweist, so erscheint doch befremdlich, daß gerade die umfassenden und bahnbrechenden Flugblattforschungen von Wolfgang Harms und seinen Mitarbeitern, namentlich die ausgezeichnete Studie von Michael Schilling, in Ewinkels Untersuchung bestenfalls in den Fußnoten erwähnt werden.
Empfohlene Zitierweise:
Waltraud Pulz: Rezension von: Irene Ewinkel: De monstris: Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 1995, in: INFORM 1 (2000), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=342>
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