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Christine van den Heuvel / Manfred von Boetticher (Hg.): Geschichte Niedersachsens. Bd. III, Teil 1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; XXXVI), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1998, 904 S., ISBN 3-7752-5901-5, DM 86,00

Aus: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte (Bd. 80 (1999), S. 279-281)

Rezensiert von:
Thomas Dehesselles

Mit dem vorliegenden, bereits 1983 angekündigten, zweiten Teilband ist das Übersichtswerk über die Geschichte Niedersachsens für die Frühe Neuzeit nunmehr abgeschlossen. Die Schwierigkeiten der Erstellung und die damit unvermeidlich verbundenen inhaltlichen Probleme ändern nichts an der grundlegenden Bedeutung des Werkes als Übersicht und Orientierungshilfe. Etwas Vergleichbares lag bisher nicht vor. Obwohl einige Beiträge bereits bei Erscheinen des ersten Teilbandes, der Bildung, Wissenschaft und Kirchengeschichte behandelte, erstellt waren, ist die regionale, insbesondere die braunschweigische Forschung in der Zwischenzeit nicht so weit vorangeschritten, daß es einer Neuformulierung der Übersicht bedürfte. Das Werk ist insgesamt in der Tendenz abwägend und zurückhaltend formuliert, so daß grundsätzliche Widersprüche zu inhaltlichen Aussagen nicht zu erwarten sind. Es bietet der historischen Forschung eine Vielzahl von Anregungen und Hinweise auf Lücken.

Im ersten Teil setzt sich von Boetticher mit der politischen Geschichte des 16. und den Anfängen des 17. Jahrhunderts bis zum Dreißigjährigen Krieg auseinander. Die damals durchaus führende Rolle, die das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, Wolfenbüttelschen Teiles, insbesondere durch die Vereinigung mit den Teilherzogtümem Calenberg und Grubenhagen, spielen konnte, wird zurecht betont. Unschön ist, daß die staatsrechtlich unkorrekte Bezeichnung "Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel" verwendet, aber nicht erläutert wird. Überschneidungen mit der von Hans-Walter Krumwiede im zweiten Teilband dargestellten Kirchengeschichte (dort Seite 3 bis 108) liegen in der Natur der Sache.

Gerd van den Heuvel schildert die weitere Entwicklung (1618-1714) und den damit verbundenen Machtverlust der in Wolfenbüttel regierenden Herzöge. Die Bedeutung des Niedersächsischen Reichskreises wird eher als Reichsgeschichte denn als niedersächsische Regionalgeschichte dargestellt. In der Zeit vor und im 30jährigen Krieg ist dem Kreis als "Vermittlungsinstanz" aber nicht die auch territoriale Bedeutung abzusprechen (so Gittel).

Römer behandelt das 18. Jahrhundert. Hier werden die braunschweigischen Sonderentwicklungen bei den "Regierungsreformen im Zeichen der Aufklärung" (S. 308 ff.) eher oberflächlich dargestellt. Hier kann parallel der zweite Teilband mit seinem von Haase bearbeiteten Teil "Bildung und Wissenschaft" (Seite 261 bis 495) herangezogen werden.

Der zweite Teil behandelt die Wirtschaftsgeschichte. Er entspricht seiner Gliederung nach und in der Strukturierung, was der Verfasser Kaufhold in der Einleitung anmerkt, nicht dem neueren Forschungsstand. Da auf eine Einarbeitung der "Policey" verzichtet wurde, auch wenn an etlichen Stellen Policeyverordnungen herangezogen wurden, ist hier der weiteren Forschung ein weites Feld eröffnet. Vor allem, da der Teilband des "Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit VI - Welfische Territorien" demnächst erscheinen wird. Der wirtschaftshistorisch interessierte Leser kann einen guten Überblick über die behandelten Gebiete Bergbau, Gewerbe, Verkehr, Handel sowie Geld- und Münzwesen gewinnen. Ausführlich und mit zahlreichen Verweisen auf weiterführende Literatur wird versucht, einen großen Bogen über die vielfältigen regionalen Entwicklungen hin zu gemeinsamen Entwicklungslinien zu finden. Die Kritik wird regelmäßig vermerken, daß die Verallgemeinerung zu weitgehend sei; der Gegenkritik wird sie nicht weit genug gehen. Es ist aber an der Zeit, daß die verschiedenen historischen Disziplinen versuchen, ihre Ergebnisse zu verknüpfen, um so zu der umfassenden Betrachtung zu gelangen, die auch die Handlungsweisen der beteiligten Personenkreise in der Frühen Neuzeit bestimmte. Die Wirtschaftsgeschichte ist gefordert die in der Einleitung genannten Thesen der "Proto-Industrialisierung" und des "kapitalistischen Weltsystems" zu verifizieren.

Die besondere Entwicklung, die Braunschweig-Wolfenbüttel im 16. und 17. Jahrhundert nahm, wird zutreffend geschildert. Überzeugend ist die differenzierte Betrachtung der Entwicklung des 18. Jahrhunderts (Seite 365-368). Für die Bereiche Gewerbe und Verkehr wird festgestellt, daß es an geeigneten Vorarbeiten mangele, insbesondere für das 16. und 17. Jahrhundert. Durch eine intensive Auswertung der wenigen Literatur gelingt es Kaufhold trotzdem, eine plausible Übersicht zu liefern. Die Verkehrsströme werden auch graphisch sehr übersichtlich dargestellt (Seite 481).

Der Handel und die besondere Bedeutung der Braunschweiger Messe werden im folgenden Kapitel dargestellt (Seite 522 bis 574, insbesondere Seite 539 ff.). Nicht alle Feststellungen überzeugen. Obwohl die "Policey" nach dem Vorwort nicht bearbeitet werden sollte, erfolgen diverse unkritische und willkürliche Bezüge. Das Maßnahmengeflecht der "Handelspolicey" sollte stets im Gesamtzusammenhang gesehen werden, es geht nicht an, einzelne Maßnahmen herauszugreifen und aus der Wiederholung eines Verbotes auf die Nichtbeachtung der Norm zu schließen (Seite 544 f.). Das braunschweigische Leihhaus wird zu unrecht als Bank, ja sogar als "Staatsbank" bezeichnet (Seite 570). Bankgeschäfte oder Notenpolitik durfte und konnte das Leihhaus aber gerade nicht durchführen. Seine wesentlich wichtigere Funktion, die von ständischer Einflußnahme unbehelligte Kreditaufnahme durch die Regierung bzw. den Herzog wird gar nicht erwähnt. Die Forschungslage war hier eher gut (Albrecht, Brübach, Denzel, Ebeling, Kellner), so daß nicht nur wegen der fehlenden Beachtung der großen Bedeutung Braunschweigs der Teil weniger gut gelungen erscheint.

Über das Münz- und Geldwesen gibt Schneider eine umfangreiche und detaillierte Darstellung (Seite 575 bis 532), die mit vielen Zahlen und Statistiken angereichert ist. Überzeugend wird nicht nach Territorien untergliedert, sondern die Gesamtentwicklung chronologisch dargestellt. Braunschweig-Wolfenbüttel gehörte gemeinsam u.a. mit den übrigen welfischen Territorien zum niedersächsischen Kreis und unterlag dessen Münzgesetzgebung. Auch die Auswirkungen der Reichsmünzordnungen werden ebenso wie die in Braunschweig-Wolfenbüttel besonders dramatischen "Kipper-und-Wipper-" sowie "Hekkenmünzer"-Zeiten (Seite 596 und 605) präzise herausgearbeitet. Eine Abbildung der in Niedersachsen verwendeten Münzen der Frühen Neuzeit rundet die Darstellung ab.

Teil 3 stellt die Ländliche Wirtschafts- und Sozialgeschichte in zwei Abschnitten (16. bis Mitte 17. Jahrhundert, Saalfeld; Mitte des 17. bis zum 19. Jahrhundert, Achilles) dar. Hier werden kenntnisreich und detailliert die unterschiedlichen Entwicklung des Bauernstandes (der in Niedersachsen nur ausnahmsweise "Stand" war) geschildert. Im Bereich der Produktion gibt es einige Überschneidungen mit dem Artikel über Handel und Handwerk, die Berührungspunkte waren aber zwangsläufig und unvermeidbar. Die quantitativen Untersuchungen des Autors Achilles und von Abel sind - leider - bis heute kaum durch neuere Forschung ergänzt. So ist der Beleg für nahezu alle Thesen auf Quellen aus dem Staatsarchiv Wolfenbüttel gestützt und die Darstellung überwiegend braunschweigische Regionalgeschichte. Besser war die Forschungslage in Hinsicht auf die Bevölkerungsentwicklung (Seite 707 bis 716), die hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden soll.

Die städtische Bevölkerungs- und Sozialgeschichte schildert im Anschluß Kaufhold auf den Seiten 733 bis 840. Viele Statistiken und Tabellen gewähren guten Überblick über Sozialgeschichte und Entwicklung der Stadtbevölkerung. Die "Regierung und Zentralverwaltung" wird sozialhistorisch, aber nicht rechtshistorisch betrachtet. Hier dürfte die Einarbeitung der "Policey" zukünftig unumgänglich sein; die herangezogene Literatur dürfte ebenfalls als eher veraltet gelten, neuere Forschung fehlt. Der eher zu mißbilligenden Tendenz der Forschung, die Randgruppenproblematik überzubetonen, wird widerstanden (Seite 829 f.).

Abgerundet wird das gelungene Werk mit genealogischen Tafeln über die niedersächsischen Herrscherhäuser.

Empfohlene Zitierweise:

Thomas Dehesselles: Rezension von: Christine van den Heuvel / Manfred von Boetticher (Hg.): Geschichte Niedersachsens. Bd. III, Teil 1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1998, in: INFORM 1 (2000), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=347>

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