Manfred von Boetticher (Red.): Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung; 54), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, 350 S., ISBN 3-525-35536-x, DM 86,00
Aus: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte (Bd. 80 (1999), S. 286 - 289)
Rezensiert von:
Gottfried Etzold
Die fünf Hauptkapitel des Werks folgen dem Schema, daß an eine Einführung zum Thema ein russisches Resümee sich anschließt und Quellentexte den Teil beschließen. Die Zweisprachigkeit erfüllt vor allem in der Zusammenfassung und in den regestenartigen Einführungen zu den Quellen ihren Sinn, da diese in der Originalsprache wiedergegeben sind. Zu bemerken ist, daß die aufwendige Typographie für das Russische alte Schriften wiederbelebt und eine neue Kursive entwickelt hat. Svetlana Romanovna Dolgova schildert in ihrer Einführung die Eheanbahnung zwischen der Herzogin Charlotte Christine Ulrike und dem Zarewitsch Aleksej, die 1711 zur Heirat in Torgau führte. Bemerkenswert ist, wie feinfühlend vor allem Peter der Große dieses Projekt betrieb, der nicht befehlen, sondern die Verbindung vom Willen der beiden jungen Leute abhängig machen wollte. Aus dem Dokumententeil ist vor allem der Ehevertrag hervorzuheben, der in vielen Bedingungen dem "spanischen" folgt. Damit wird - zu wenig deutlich in der Einleitung - darauf verwiesen, daß 1708 Herzog Anton Ulrichs älteste Enkelin Elisabeth Christine mit dem späteren Kaiser Karl VI. verehelicht wurde, mithin die russische Heirat einem großen Plan folgt. Der russische Vertrag ist in einem Punkte liberaler, denn Charlotte wurde es freigestellt, ihren protestantischen Glauben zu behalten, nur die Kinder dieser Ehe sollten im orthodoxen Glauben erzogen werden. Das Glück schien diese Verbindung zu begünstigen, den Aleksej überschüttete die Braut mit Liebesbeweisen. Aber so ist es mit Strohfeuern. Obwohl Charlotte ihren Pflichten nachkam und zwei Kinder gebar, wandte sich der Thronfolger von ihr ab, vernachlässigte die Fürsorge für ihr leibliches Wohl (in Charlottes Teil des gemeinsamen Palastes regnete es ins Schlafzimmer) und hielt sich demonstrativ eine Leibeigene als Mätresse. Nur Zar Peter bekannte sich unerschütterlich zu ihr, schickte ihr, als sie nach der Geburt des Sohnes Peter dem Sterben nahe war, seine Ärzte und besuchte sie, obwohl selber krank. Charlotte starb, ihr Mann bekanntlich drei Jahre später 1718 an der Folter; der Sohn wurde - minderjährig - als Peter II. 1727 Zar. Sein Tod 1730 beendete für diesmal die Ambitionen der Welfen, in der russischen Herrscherfamilie Fuß zu fassen, für das Kaiserreich Rußland aber starb mit ihm auch das Haus Romanow in der männlichen Linie aus.
Die unmittelbare Fortsetzung erzählt Aleksandr Vladimirovic Lavrent'ev. Zarin wurde Anna, die Tochter Ivans V., des älteren Halbbruders Peters des Großen. Selbst kinderlos, kam in diesem Zweig der Romanovs nur ihre Nichte Elisabeth von Mecklenburg-Schwerin als Thronerbin in Frage, die ihrer Mutter wegen der zerrütteten Ehe 1733 nach Rußland folgte und in der orthodoxen Taufe den Namen Anna erhielt. Die Günstlinge der Kaiserin, ihr Favorit Biron, Feldmarschall Münch und Vizekanzler Ostermann sahen in dem 1714 (dem Todesjahr seines Onkels) geborenen Herzog Anton Ulrich aus der Bevernschen Linie der Welfen den Bräutigam für die 14jährige Prinzessin. Der 19jährige wurde an den Hof nach St. Petersburg eingeladen, um mit Anna Leopol'dovna bekannt zu werden; diplomatisch kaschiert wurde diese Direktheit mit der Ernennung zum Oberst eines Regiments. Vier Jahre ist er der erfolglose Bräutigam.
Anton Ulrich, in politischen Angelegenheiten schüchtern und unerfahren, konnte als Offizier im 1737 beginnenden Krieg gegen die Türken Ansehen gewinnen und wurde wieder an den Hof gezogen, in der "Hauptsache" aber, wie die Quellen den Heiratsplan nannten, ging es kaum vorwärts, teils weil sich die beiden jungen Leute nicht verstanden, ja die Prinzessin Neigungen zum polnisch-sächsischen Gesandten Graf Lynar nicht verbergen konnte, teils weil Biron, nun Herzog von Kurland, gegen die Verbindung intrigierte, in der Hoffnung, seinen eigenen Sohn mit der Thronerbin zu vermählen. Die "zerrüttete Gesundheit" der Kaiserin ließ 1738 eine baldige Eheschließung der Erbin geraten sein und der alles beherrschende Biron stellte Anna Leopol'dovna vor die Alternative, entweder seinen Sohn Peter oder Anton Ulrich zu heiraten. Anna wählte den ungeliebten Anton Uhich. Das aus dieser Ehe stammende zweite Kind, der Sohn Ivan wurde von der Kaiserin Anna zu ihrem Nachfolger bestimmt; Biron zum Regenten. Nach dessen Absetzung übernahm die Mutter die Regentschaft.
Um der Kontinuität der Erzählung willen sollte man nun klugerweise das Kapitel "Die Gefangenschaft der 'braunschweigischen Familie'" von Manfred von Boetticher und Leonid Iosifovic Levin lesen. Peters des Großen Tochter Elisabeth usurpierte den Thron mit Hilfe der Garde und schien zunächst ihre Nichte, die Regentin Anna, mit ihrer Familie ins Ausland abschieben zu wollen. Aber in Riga wurde sie gefangengesetzt, das Ehepaar getrennt. Anton Ulrich gelang es noch, seinem Bruder Karl nach Wolfenbüttel Briefe zu schreiben, aber mit der Überstellung in die Dünaburger Schanze wurden alle Kontakte unterbunden. Die europäischen Mächte erreichten keine Freilassung der Familie, der französische Botschafter beriet vielmehr Elisabeth, wie sie, die ständig um ihren Thron bangte, sich durch Verbannung des Problems entledigen könnte. Der abgesetzte Kaiser Ivan VI. wurde von der Familie getrennt und ihm der Name Grigorij gegeben; er sollte seine Identität verlieren. Die Eltern blieben völlig im Ungewissen über sein Schicksal, obwohl er mit ihnen schließlich im Haus des Erzbischofs in Cholmogory an der nördlichen Düna ungefähr 70 km vor Archangel`sk untergebracht war. Zwei getrennte Kommandos wurden eingerichtet, unterstanden direkt dem Kabinettssekretär und mußten darüber schweigen, wen sie zu bewachen hatten. Die Haftbedingungen waren unmenschlich: Der Knabe Ivan durfte sein Zimmer nicht verlassen, er erfuhr keinerlei Erziehung. Als Befreiungsgerüchte um ihn nicht verstummten, ließ Elisabeth ihn auf die Festung Schlüsselburg verlegen. Anna Leopol'dovna. gebar in der Gefangenschaft drei weitere Kinder, darunter 2 Söhne, als sie 1746 starb, wurde ihr Leichnam nach St. Petersburg übergeführt. Anton Ulrich überlebte seine Frau um 30 Jahre; in Eingaben erst an Katharina II. wagte er es, um Hafterleichterungen und um die Erlaubnis zu bitten, seine Kinder in ihrer Religion unterweisen zu lassen. Diese Petitionen sind erschütternde Dokumente, ihnen wurde nicht entsprochen. 1780 wurden die vier Kinder einer Schwester Anton Ulrichs, der verwitweten dänischen Königin Juliane Marie übergeben und gewannen eine Freiheit, mit der sie nichts anfangen konnten.
Das weitere Schicksal Ivans VI. schildert Manfred von Boetticher im 5. Kapitel. Die Haft in Schlüsselburg in einer gesonderten Kasematte muß die wahre Hölle gewesen sein, weil die beiden Offiziere, die ständig in seinem Zimmer sein mußten, seine Peiniger waren. Elisabeth und später auch Katharina hätten befohlen, daß der Gefangene bei einem Befreiungsversuch nicht lebendig übergeben werden durfte. Der Zustand Ivans kann nur mit hochgradiger Verwahrlosung und Verhaltensgestörtheit beschrieben werden. Vermutlich hat Elisabeth, sicher aber haben Peter III. und Katharina II. den Gefangenen heimlich gesehen, um herauszubekommen, welche Gefahr von ihm ausgehen könnte, wenn sich eine Partei seiner als Kaiser bemächtigte. Katharina hielt Ivan für schwachsinnig, dem widersprachen aber alle vorherigen Berichte. Er hatte verworrene Erinnerungen, Kaiser gewesen zu sein, klar erinnerte er sich an einen freundlichen Bewacher aus seiner Kindheit.
Sein Tod wird durch die Öffnung der Archive entmystifiziert. Der Unterleutnant V. Ja. Mirovic, Sproß einer verarmten ukrainischen Magnatenfamilie, hat letztlich alleine seinen Plan ausgeführt, Ivan zu befreien. Außertourlich übernimmt er mit seinem Kommando die Wache, beredet seine Soldaten zum Angriff auf die ständige Wache, die - eingedenk ihrer Befehle - Ivan töten. Katharina II., die man bisher in der Literatur von einer Mittäterschaft nicht gänzlich freisprechen konnte, ist nur durch diesen Geheimbefehl, den sie immer geleugnet hatte, am Tode Ivans schuldig.
Die Usurpation der Macht durch Elisabeth gegen die ausdrückliche Nachfolgeregelung durch die Kaiserin Anna - sie nutzte die Möglichkeit aus, die Peter der Große durch das neue Erbfolgegesetz geschaffen hatte - war der beständige Makel der russischen Dynastie der Folgezeit. Die Kaiserin Elisabeth unternahm den Versuch, das Andenken an ihren Vorgänger, das Kind Ivan, aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen. Alle Ukaze, Patente, Akten, die im Namen Ivans verfaßt waren, mußten eingeliefert werden, ebenso private Aufzeichnungen; selbst Bücher mußten an die Druckereien zur Änderung eingesandt werden. Dennoch blieb die Frage im Volk bestehen, wer denn nun der rechte Herrscher über Rußland ist? Drei Aufsätze widmen sich diesen Problemen.
Aus Prozeßakten der Geheimen Staatskanzlei zur Zeit der Regentschaft Birons und Anna Leopol'dovnas arbeitet Aleksandr Borisovic Kamenskij überzeugend heraus, daß - wenn man so etwas wie eine russische Gesellschaft für die 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts postulieren will -, sie in den Garderegimentern zu suchen sei. Wer anders, so zitiert er einen Offizier eines einfachen Regiments, wäre in der Lage, die rechtmäßige Erbfolge zu garantieren, als die Garde. Mithin streiten Peters Erbfolgegesetz und die frühere Praxis um die Vorherrschaft. Elisabeth hatte durchaus Anhänger, die sie der Braunschweigischen Familie vorzogen und ihr willig auf den Thron halfen. Dieselben Ouellen, die in der Regierungszeit Elisabeths entstanden, befragt Evgenij Evgen`evic Rycalovskij, inwieweit es eine "Partey" Ivans VI. gegeben habe, die das Kind zurück auf den Thron bringen wollte. Sein Fazit ist erstaunlich. Trotz einiger Verschwörungen habe es keine wirkliche Partei für Ivan gegeben, aber der Wunsch, einen männlichen Herrscher zu haben, und die vielen Gerüchte um ihn ließen seine Rückkehr als ständige Gefahr erscheinen. Ingrid Schierle schließlich erzählt die oben schon angedeutete "damnatio memoriae", die Ivan VI. traf, eine in der neueren Geschichte wohl beispiellose Verfolgung, die sich so grausam auf das Leben dieses Menschen auswirkte. Sein Schicksal müßte - wenn es die Akten hergeben - eigentlich von Psychiatern untersucht werden, die Erfahrungen mit dem Fall Caspar Hauser haben.
Im wahrsten Sinne angehängt ist der Reisebericht John Castles über seine Reise nach Kasan, die er Ivan VI. widmete. Der Bericht kam mit dem Gepäck Anton Ulrichs in den Westen und ist so der Vernichtung in Rußland entgangen. Ein Register und Glossare deutscher und russischer Begriffe der Ouellen ergänzen diesen außerordentlichen Band zu einem Thema deutsch-russischer Geschichte, deren Kenntnis einige Mystifikationen der russischen Dynastie bis zu ihrer Abdankung zu erhellen in der Lage ist.
Empfohlene Zitierweise:
Gottfried Etzold: Rezension von: Manfred von Boetticher (Red.): Braunschweigische Fürsten in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, in: INFORM 1 (2000), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=351>
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