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Sebastian Kreiker: Armut, Schule, Obrigkeit. Armenversorgung und Schulwesen in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (= Religion in der Geschichte. Kirche, Kultur und Gesellschaft; Bd. 5), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1997, 277 S., ISBN 3-89534-183-5, DM 38,00

Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 43 (1998)

Rezensiert von:
Johannes Kistenich
Westfälisches Staatsarchiv, Detmold

Die These der Sozialdisziplinierung gehört zu den zentralen Problemen der Erforschung frühneuzeitlicher Staatlichkeit. Als einen Beitrag zu dieser Debatte (S. 19 Anm. 47, 234 Anm. 2) versteht sich auch die von Sebastian Kreiker vorgelegte und von Ernst Schubert betreute Göttinger Dissertation. Ein Blick in das Literaturverzeichnis zeigt die intensive Auseinandersetzung gerade mit den im vergangenen Jahrzehnt erschienenen Beiträgen zu dieser Forschungsdiskussion. Ziel der Arbeit ist es, anhand edierter evangelischer Kirchenordnungen und verwandter Quellengruppen (Visitationsinstruktionen, Synodal- und Konsistorialbeschlüsse, Landtagsabschiede, Ratsmandate, Schul- und Armenordnungen usw.) des 16. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Raum am Beispiel des Armen- und Schulwesens obrigkeitliche Normierungs- und Disziplinierungsvorstellungen herauszuarbeiten (S. 18, 20f).

Der Vf. unterscheidet in der Regel nicht zwischen lutherischem und reformiertem Bekenntnis (Ausnahme z.B. bei den Katechismen, S. 148-150) und legt damit eine Einheitlichkeit der Entwicklung nahe, die in dieser Arbeit zumindest nicht explizit thematisiert wird. Insgesamt steht entsprechend der konfessionellen Entwicklung im Alten Reich das lutherische Bekenntnis im Mittelpunkt der Arbeit Kreikers, zumal dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts in der Studie deutlich geringeres Gewicht beigemessen wird. So finden, um nur einen bedeutenden Fall der rheinischen Geschichte herauszugreifen, etwa die zuletzt von J.F. Gerhard Goeters edierten Beschlüsse des reformierten Weseler Konvents (1568) (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 30, Düsseldorf 1968) keine Erwähnung, und auch nicht die Entwicklung in den späteren Niederlanden. Der rheinisch-westfälische Raum und der Nordwesten des Alten Reiches werden nur am Rande behandelt (S. 10 zu Bucers Entwurf für Köln). Die Kirchenordnung und die Declaratio Johanns III. von Jülich-Kleve-Berg (1532/33; ediert bei Otto R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik Bd. 1, Bonn 1907, Nr. 240, 249), die in der Forschung als Vertreter einer via-media-Politik interpretiert werden, bleiben ebenso außer Acht wie die nicht edierten Articuli aliquot (1545) oder die Verhandlungen um eine neue Kirchenordnung für die vereinigten Herzogtümer bis in die Mitte der 1560er Jahre, an deren Beratungen auch der württembergische Reformator Johannes Brenz beteiligt war.

Ambivalent wirkt die Konzeption der Arbeit, wie sie in der Einleitung dargeboten wird, hinsichtlich der Bedeutung von Alltagsgeschichte. In erster Linie geht es dem Vf. um die Analyse normativer Quellen zur Beschreibung obrigkeitlicher Idealvorstellungen. In diesem Sinne wird formuliert: "In dieser Studie sollen die Kirchenordnungen als normativer Typus untersucht werden, ... [um] den normativen Kernbestand [für Armenversorgung und Schule] herauszuarbeiten" (S. 20). "Die Rekonstruktion der Lebenswelt der armen Leute, der Schüler und der Lehrer kann dabei nicht das Ziel dieser Untersuchung sein" (S. 21). Im gleichen Kontext heißt es aber auch: "Erst in zweiter Linie sollen die tatsächlichen Verhältnisse und die Durchsetzung der obrigkeitlichen Normierungen anhand von Quellen aus dem Alltag von Fürsorge und Schule beleuchtet werden. ... Zugleich sollen die Normsetzungen und die darin enthaltenen obrigkeitlichen Idealvorstellungen mit alltagsgeschichtlichen Befunden konfrontiert werden, um einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, inwieweit galt, was gelten sollte" (S. 21). Soll- und Istzustand sind, wie auch die fernere Darstellung erweist, wohl kaum voneinander zu trennen. Normative Bestimmungen sind in der Regel Reaktion auf Zu- und Mißstände in der Wirklichkeit. Man wird die historische Bedeutung obrigkeitlicher Reglementierungen wohl kaum ohne die Berücksichtigung ihrer Umsetzungschancen angemessen beurteilen können. Die Kenntnis des Soll-Zustands ist als Hintergrund für die Untersuchung der Wirklichkeit freilich ebenso unverzichtbar. Kreiker gelingt die Verbindung beider Ebenen weit besser, als es die Einführung erwarten läßt. Gerade im Abschnitt über die Schulen gehen Beschreibung von Norm und Wirklichkeit fließend ineinander über.

In den zwei Hauptkapiteln werden nebeneinander Armenversorgung (S. 22-116) und Schulwesen (S. 117-233) nach einem einheitlichen Prinzip behandelt; am Ende der beiden Abschnitte werden prägnant formulierte Zwischenresümees gezogen. Die beiden Untersuchungsfelder werden in der Arbeit bis auf wenige Verweise unabhängig voneinander behandelt. Dies erleichtert die Einzelanalyse, jedoch hätte ein ausführlicheres Schlußkapitel mit einer Betonung der Parallelen die zentralen Aussagen der Studie vielleicht noch deutlicher hervortreten lassen.

Für beide Bereiche weist Kreiker nach, wie spätmittelalterliche Vorbilder und Entwicklungen durch die Reformation aufgegriffen wurden, "ohne der eigentliche Urheber der Entwicklung zu sein" (S. 39, 42, 124f, 129). Dies zeigt sich bei der zunehmenden Mißbilligung des Bettels und der Organisation kommunaler Armenpflege ebenso wie bei den städtischen Schulgründungen und den Schulreformen des 15. Jahrhunderts.

Bei der Armenpflege und auf dem Bildungssektor ist für die Frühphase der Reformation ein vorübergehender Niedergang zu verzeichnen. Die lutherische Kritik an den mittelalterlichen Formen der Jenseitsfürsorge und Werkheiligkeit entzog dem Vertrag zwischen Spender und Bettler über Gabe und Fürbitte die Grundlage, wodurch das Almosen zur unverdienten Spende wurde und die Spendenbereitschaft zurückging (S. 67). Auf dem Schulsektor führten die Auflösung von Dom-, Stifts- und Klosterschulen sowie die reformatorische Propaganda gegen die "Pfaffen" und ihr Bildungssystem, kombiniert mit dem Vorwurf, die Eltern schickten ihre Kinder nur deshalb zur Schule, damit diese eine kirchliche Karriere machten und Pfründen erhielten, zum Rückgang von Schülerzahlen und zur Schließung von Schulen (S. 121f).

Sowohl das Armenwesen als auch die Schulen profitierten von freigewordenem Kirchengut im Zuge der Reformation und von der Einrichtung und dem Ausbau Gemeiner Kästen (S. 44, 56). Dies eröffnete erst die Chance, private Almosen durch eine "Unterstützungsleistung, die von einem zentralen Fürsorge-Institut auf Grund rationaler Kriterien ausgeteilt wurde", zu ersetzen (S. 73). Der Aufbau einer flächendeckenden Armenversorgung scheiterte allerdings, da einerseits die Übernahme von Bestimmungen aus anderen Kirchenordnungen dazu führte, daß lokale und regionale Unterschiede hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse kaum Berücksichtigung fanden (S. 13, 80), und andererseits die Gemeinen Kästen durch eine Vielzahl von Aufgaben finanziell in der Regel überlastet waren (S. 60). Gerade im Verlauf des 16. Jahrhunderts stieg die Bedeutung von Schulangelegenheiten in der Verwaltung der Gemeinen Kästen gegenüber der Armenpflege an. Offenbar hatte die Obrigkeit an einem funktionierenden Schulwesen ein höheres Interesse (S. 237).

Aus den von ihm analysierten normativen Quellen zum Armen- und Schulwesen stellt Kreiker die Disziplinierungs- und Homogenisierungsbestrebungen der Obrigkeit gegenüber den Untertanen als zentralen Beweggrund heraus: Der Arme hatte seine Unterstützungsbedürftigkeit wie auch -würdigkeit durch stetes Wohlverhalten zu beweisen, das bei regelmäßigen Kontrollen durch Nachbarn, Umgänge, Hausbesuche, Führung von Armenregistern, durch Tragen von Bettelzeichen u.a.m. überprüft wurde. Unterstützen und Überwachen waren zwei Seiten einer Medaille (S. 74-78). Als Modellarme galten Handwerker oder Arbeiter, die "fromm, fleißig, sparsam, gut beleumundet, unverschuldet" etwa durch Krankheit, Unfall, Mißernte, Krieg, Brand, hohes Alter oder Kinderreichtum "in Not geraten waren" (S. 79f). Negatives Leitbild war demgegenüber der Müßiggänger, dessen Lebensweise der "ethischen Wertschätzung der Arbeit durch die Reformation" widersprach (S. 110).

Philipp Melanchthons Unterricht der visitatoren ... (1528) war "der erste erfolgreiche Versuch, kirchliche und schulische Angelegenheiten für ein ganzes Territorium [Sachsen] verbindlich zu regeln". Seine weitreichende Wirkung resultierte daraus, daß das Regelwerk unkompliziert und vielerorts leicht anwendbar, sein Autor zudem "eine unumstrittene pädagogische und reformatorische Autorität" war (S. 127, 130). Beim Schulwesen trafen sich gemeinsame Interessen von Kirche und Obrigkeit an der Disziplinierung und Bildung der Untertanen (S. 125). Ziel der evangelischen Kirchen- und Schulordnungen war die Erziehung zu gottesfürchtigen, disziplinierten, für die Administration in Kirche und Staat geeigneten Untertanen. Als Leitmotive bezeichnet Kreiker dabei Elitenbildung und Disziplin. Die Heranbildung einer Funktionselite von Beamten und Pfarrern macht es verständlich, warum die studienvorbereitenden Latein- und Internatsschulen stärker in den Vorschriften Berücksichtigung fanden als die zur Vermittlung von Elementarkenntnissen errichteten deutschen Schulen (S. 131f, 134f, 147).

Die Schule war konzipiert als "pädagogischer Musterstaat der Disziplin". Insbesondere die Internatsschulen wie die sächsischen Fürstenschulen und die württembergischen Klosterschulen waren "kleine Welten der Disziplin". Disziplin wurde als selbständiges Lernziel formuliert (S. 197f). Die Schüler waren in ein System von Verhaltensvorschriften, hierarchisch organisierte ständige Beaufsichtigung, institutionalisierte Denunziation, Entsolidarisierung, Beschämung, Schulstrafe etc. gezwängt (S. 200-220).

Parallelen erweisen sich auch zwischen Armenpflege und Bildungswesen hinsichtlich der Einstellung zu Fremden. Als ein Grundelement der Armenverwaltung stellt der Vf. das Heimatprinzip heraus: Jede Kommune hatte ihre eigenen Bettler, d.h. die Hausarmen, zu versorgen. Demgegenüber stand der zunehmend kriminalisierte fremde Bettler. Obgleich unstete Wohnverhältnisse typisch für die Lebensweise Armer war, blieb dies in den Kirchenordnungen weitgehend unberücksichtigt. Mobilität als Lebensform war zunehmend unerwünscht, weil sie den Disziplinierungsbestrebungen der Obrigkeit widersprach (S. 38, 94-101). Dies galt auch für fahrende Schüler. Vagierende Scholaren fanden in den evangelischen Schulordnungen kaum mehr Erwähnung (S. 173-184). Im Kapitel über fahrende Schüler erläutert der Vf. sehr ausführlich anhand der Autobiographien von Thomas Platter aus den Jahren 1509-20 und Johannes Butzbach seit 1489, also im wesentlichen aus vorreformatorischer Zeit, den Alltag fahrender Schüler. Die gerade für die fahrenden und überhaupt armen Schüler typische Unterhaltsform der Kurrende, d.h. des Chors armer Scholaren, die singend und um Almosen bettelnd durch die Gassen zogen und bei Festlichkeiten auftraten, wandelte sich in der Reformation von der weitgehend ungeordneten Selbsthilfeeinrichtung zur offiziellen schulischen Institution, für die detaillierte Regelungen und Kontrollen erlassen wurden. Dies ermöglichte es, mit geringen Kosten das Begabungspotential armer Schüler auszuschöpfen. In diesen Kontext gehört auch die Unterbringung armer Schüler als Hauserzieher und -lehrer sowie die Stipendienvergabe (S. 184-196).

Ferner widersprachen Winkelschulen den Vereinheitlichungstendenzen der Obrigkeit, denn die dort tätigen Lehrpersonen waren hinsichtlich ihrer konfessionellen Zuverlässigkeit und pädagogischen Eignung keiner Prüfung unterzogen und der Überwachung durch Pfarrer und Rat entzogen. Wiederholte Verbote blieben letztlich aber weitgehend fruchtlos (S. 155-158).

Die angestrebte Vereinheitlichung des Lehrbetriebs verlangte auch nach Homogenisierung des Lehrstoffs und der Unterrichtsmedien, einer einheitlichen Ausbildung des Lehrpersonals sowie einer größtmöglichen Kontinuität im Lehramt. Religionsunterricht wurde mit der Reformation als selbständiges Fach in den Schulen eingeführt und gewann zentrale Bedeutung u.a. in Form des Katechismus, der durch ständige, stereotype Wiederholung von der Kanzel, in der Schule und zu Hause geradezu eingetrichtert werden sollte (S. 148-153). Die stete Suche nach einer auskömmlicheren Anstellung seitens der meist schlecht bezahlten Lehrer, die in ihrer Tätigkeit eine Wartestellung und Vorbereitung für den Pfarrdienst sahen, führte zu einer hohen Fluktuation an den Schulen, was die Schulordnungen zu unterbinden suchten (S. 162f). Im Gegensatz zum Spätmittelalter entstanden durch die Reformation zunehmend umfangreicher und subtiler werdende Formen vorgeschriebener Eingangsprüfungen, Verhaltensvorschriften, Pflichtenkataloge und Überwachungsmaßnahmen für die Lehrer, die zu einer Professionalisierung der Lehrtätigkeit führten (S. 164).

Im Bemühen, aus der Vielzahl von Kirchenordnungen und Einzelbestimmungen das Typische herauszustellen, kann die Arbeit von Sebastian Kreiker zunächst wertvolle Hilfe leisten, regionale und lokale Sonderwege als solche besser zu erkennen. Der Vf. bietet eine ins Detail gehende (vgl. z.B. den Abschnitt über das Kastenwesen, S. 43-72) und durch zahlreiche im Haupttext zitierte Beispiele lebendige, phasenweise spannend zu lesende Analyse evangelischer Kirchenordnungen bezüglich des Armen- und Schulwesens. Überzeugend gelingt es ihm, die Normierungs- und Disziplinierungsabsichten in den Kirchenordnungen herauszuarbeiten, zugleich aber auf das Defizit bei der Umsetzung hinzuweisen und Gründe dafür aufzudecken. Über die Kriterien für die zweifellos sinnvolle Auswahl der Bereiche Armenversorgung und Schulwesen als Untersuchungsfelder erfährt man freilich wenig. Die Arbeit enthält ein Personen- und Ortsregister.

Empfohlene Zitierweise:

Johannes Kistenich: Rezension von: Sebastian Kreiker: Armut, Schule, Obrigkeit. Armenversorgung und Schulwesen in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1997, in: INFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=354>

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