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Johannes Kistenich: Das Schulwesen der Stadt Kalkar vor 1800, Köln: Rheinland-Verlag 1996, 219 S., ISBN 3-7927-1549-X, DM 28,00

Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 43 (1998)

Rezensiert von:
Frank-Michael Kuhlemann
Bielefeld

Die Sozialgeschichte des Bildungswesens hat im zurückliegenden Vierteljahrhundert eine Vielzahl von Untersuchungen hervorgebracht, durch die unsere Kenntnisse über die historische Entwicklung des Schulwesens erheblich erweitert worden sind. Gleichwohl fehlen nach wie vor fundierte lokal- und regionalgeschichtliche Analysen, die die grundlegenden Entwicklungsprozesse in ihrer ganzen Varianz und Vielfalt differenzieren. Vor allem ist die Frage nach der Schulwirklichkeit bisher keineswegs befriedigend aufgearbeitet worden. Das gilt in besonderer Weise für die Vormoderne, für die als spezifisches Problem der Forschung eine vielfach unzureichende Quellenbasis hinzukommt. Im Kontext dieser Forschungslage ist die Studie von Johannes Kistenich, die gedruckte Fassung einer 1994 am Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn bei Wilhelm Janssen entstandenen Staatsarbeit über Das Schulwesen der Stadt Kalkar vor 1800, vorbildlich.

Die Arbeit, die vornehmlich auf ungedruckten Quellen der einschlägigen Archive (vor allem seriellen Quellen wie Stadt-, Kirchen-, Armen- und Waisenrechnungen) fußt, rekonstruiert die Geschichte des Kalkarer Schulwesens von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zur Epochenschwelle um 1800, ergänzt um einen knappen Ausblick auf die nachfolgende Zeit bis zur Gegenwart. In systematischen Einzelanalysen werden (nach einer hinführenden Einleitung über Quellenlage und Forschungsstand, die Grundzüge landesherrlicher Schulpolitik, die allgemeine Entwicklung des Schulwesens auf dem Gebiet des alten Herzogtums Kleve sowie einem Überblick zur Stadtgeschichte Kalkars) die Institutionengeschichte der einzelnen Schultypen, die Topographie und der Zustand der Schulgebäude, die Sozial- und Berufsgeschichte der Lehrerschaft, die Entwicklung der Schülerschaft und des Unterrichts eingehend untersucht. Ein besonders aufschlußreiches Kapitel beschäftigt sich mit dem Bildungsgang Kalkarer Schüler und Studenten auf auswärtigen höheren Schulen und Universitäten.

Was an der Studie besonders überzeugt, ist die sorgfältige und umsichtige Differenzierungsleistung des Autors, der seine Befunde - für den Leser stets transparent vor dem Hintergrund der dargestellten Quellenlage - ausbreitet und interpretiert. Auf diese Weise entsteht eine vielschichtige, nicht zuletzt temporal weitreichend differenzierte Analyse eines städtischen "Schulsystems" vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Von den einzelnen Befunden, die hier nicht diskutiert werden können, sei nur erwähnt, daß sich der sukzessive Aufbau des Kalkarer Schulsystems bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hinzog und seit diesem Zeitpunkt seine feste Struktur bis zum Ende des Untersuchungszeitraums behielt. Damit korrespondiert der Nachweis einer grundlegenden Zäsur um 1800, nach der das städtische Schulwesen in eine neue Entwicklungsphase eintrat. Interessant ist der Beleg, daß es in Kalkar bereits in der Vormoderne einen konfessionsübergreifenden Schulbesuch gegeben hat und der Stellenwert der Bildung offensichtlich vor "konfessioneller Rigorosität" (S. 86) angesiedelt war. Die weitreichende Zuständigkeit der Stadt für die Rektorats- und Konrektoratsschule einerseits, die andererseits gegebene Einbindung von Lehrern und Schülern in die katholische Kirche verdeutlichen das bereits in der Vormoderne komplexe Beziehungsgefüge unterschiedlicher, am Bildungswesen beteiligter Gruppen und Schulinteressenten. Daten zum erstaunlich niedrigen Schulbesuch (für das späte 18. und beginnende 19. Jahrhundert), zur Beschulung von Mädchen (um 1800 immerhin zwischen 36 und 48 %), zum Anteil der Lateinschüler an der Gesamtschülerzahl (am Ende des 18. Jahrhunderts 0,6 % der schulpflichtigen Jungen), zu den Lehrereinkünften sowie zur sozialen Herkunft der aus Kalkar stammenden Studierenden (im Falle der sicheren Nachweise im Untersuchungszeitraum knapp 60 % aus Bürgermeister-, Schöffen- oder Ratsfamilien) schließlich bieten sozialgeschichtlich äußerst aufschlußreiche Informationen, die unser Bild vormoderner Schulwirklichkeit wesentlich bereichern.

Einige wenige negative Kritikpunkte an Kistenichs Studie ließen sich formulieren. So bleibt es fraglich, ob sich die "Differenzierung des Schulsystems" in der Frühphase bereits aus den unterschiedlichen Lehrerbezeichnungen ableiten läßt (S. 41-44). Auch bleiben die Angaben zu den Einkünften der einzelnen Lehrertypen ziemlich verwirrend. Letzteres scheint aber weniger mit der Darstellung des Autors als vielmehr mit der unübersichtlichen Herkunft und der kaum klaren Struktur dieser Einkünfte zusammenzuhängen (S. 73-84). Alles in allem können solche Einwände den Wert des vorliegenden Buches nicht schmälern. Mit Kistenichs Studie liegt eine beispielhaft gründliche Arbeit vor. Ihr Wert für die lokal und regional orientierte Bildungsgeschichte ist unbestritten. Vor allem ist hervorzuheben, daß es sich hierbei nicht um eine Dissertation, sondern um eine Staatsarbeit handelt, zu der man ihrem Verfasser nur gratulieren kann.

Empfohlene Zitierweise:

Frank-Michael Kuhlemann: Rezension von: Johannes Kistenich: Das Schulwesen der Stadt Kalkar vor 1800, Köln: Rheinland-Verlag 1996, in: INFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=355>

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