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Gudrun M. König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780-1850 (= Kulturstudien; Sonderband 20), Wien: Böhlau 1996, 399 S., ISBN 3-205-98532-X, DM 68,00

Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 43 (1998)

Rezensiert von:
Harm-Peer Zimmermann
Kiel/Freiburg

Gudrun M. König hat sich eines Freizeitverhaltens angenommen, das so geläufig ist, als ob es von jeher zu den primären Bewegungsformen des Menschen gehört hätte: das Spazierengehen. Warum ist eigentlich in der Volkskunde nicht schon längst über diese heutzutage so selbstverständliche Beintat gearbeitet worden? Um so beherzter greift der Rezensent nach diesem kompakten Buch mit dem ansprechenden Einband, dem guten Papier, dem klaren Schriftsatz und der schönen Bebilderung. Die Autorin hat in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft und Soziologie studiert; sie war Museumsvolontärin, Stipendiatin, Lehrbeauftragte und ist schließlich von Hermann Bausinger promoviert worden mit eben dieser Studie über die Kulturgeschichte des Spaziergangs.

Die Arbeit hat sieben Kapitel, die sich zu drei Teilen sinnvoll zusammenfassen lassen. Der erste Teil (S. 11-64) kümmert sich um die Fragen wissenschaftlicher Redlichkeit: Forschungsstand, Quellen, Methoden, Begründung des eigenen Forschungsansatzes und der Interessenschwerpunkte. Der Spaziergang wird als bisher kaum erforschte "Marginalie" ausgewiesen, die es aber erlaube, kulturelle und soziale Makroprobleme beispielhaft unter die Lupe zu nehmen. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Genese und Inszenierung bürgerlicher Normen und Werte zwischen 1780 und 1850, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Problembereiche: Körper und Natur, Geschlecht und Familie, Gefühl und Affektregulierung. Als Grundlage dienen vor allem Bildquellen und literarische Zeugnisse aus Württemberg (Stuttgart, Tübingen, Ulm, Wildbad).

Der zweite Teil (S. 65-206) stellt das empirische Bildmaterial vor und breitet es detailliert aus. Eine Vielzahl von Veduten mit Spaziergangsszenen ist abgebildet und wird ausführlich beschrieben. Doch damit beginnt auch schon die Schwierigkeit, die der Rezensent mit diesem Buch hat: Spätestens nach dem zehnten Bild regt sich erstes Mißfallen, das bis zum 25. Bild in stärkeres Grollen und schließlich nach dem 35. Bild in handfeste Ärgerlichkeit übergeht. Denn die Autorin beschränkt sich in diesem Hauptteil ihrer Arbeit auf bloße Deskriptionen. Die Leser erfahren kaum mehr, als sie ohnehin selbst auf den schönen Abbildungen erkennen können: "In Richtung Stadt geht ein älterer Herr, gefolgt von einem Hund, um die Ecke verschwindet gerade ein bürgerliches Paar" (S. 129); und so geht es in einem fort, ohne klärenden analytischen Zugriff, weitgehend ohne Erläuterungen etwa zur Symbolik bestimmter Staffagen, Haltungen, Kleidungen oder gar zur Intention der Künstler und ihrer Rezipienten. Die Autorin hat einen faszinierenden Quellenbestand aufgetan, aber sie hat ihn nicht durchdacht, sondern lediglich additiv eine Beschreibung an die andere gereiht. Wo bleibt der sondierende Sinn, der die relevanten Strukturen aufschließt?

Der dritte Teil der Arbeit (S. 207-319) rekapituliert die zeitgenössische Diskussion über den Spaziergang. Die Autorin berichtet über philanthropische, medizinische, hygienische, sittliche und schöngeistige Versuche, den Spaziergang als bürgerliche Praktik zu rechtfertigen. Wiederum wird immenses Material ausgebreitet. Von Frank bis Gutsmuths, von Rousseau bis Goethe wird der literarische Schatz des 18. und 19. Jahrhunderts auf Spaziergangszitate hin abgeklopft. Eine anerkennenswerte Sammlung ist dabei herausgekommen, ein Zitatensteinbruch, aber wieder läßt es die Autorin an inspirierenden Gedanken und an der Arbeit mit Begriffen fehlen.

Es wäre indes unfair und unrichtig zu behaupten, der Autorin fehle es gänzlich an Begriffen. Das Gegenteil stimmt, sie greift reichlich Begriffe auf, die derzeit in der Volkskunde eine zentrale Rolle spielen, zum Beispiel: Differenz der Geschlechter, Vielfalt der Kulturen, Ästhetik der Natur, Konstruktion des Körpers. Die meisten Stichworte des korrekten kulturwissenschaftlichen Diskurses fallen, aber die Autorin greift damit nicht beherzt zu. Sie nennt die Begriffe in bester Absicht, aber sie arbeitet damit nicht eigentlich, sie gestaltet ihren Stoff damit nicht. So mangelt es schon an einer grundlegenden Typologie des Spaziergangs, einer Typologie, die sich etwa an den Begriffen öffentlich - privat, moralisch - ästhetisch, bürgerlich - proletarisch, Arbeit - Freizeit hätte orientieren können. Frau König variiert mannigfaltige Motive des Spazierengehens, ohne sich auch nur in ein einziges Motiv tiefer einzudenken und mithin eine klare Interpretationslinie zu entwickeln. Es gibt keine durchgehaltene, deutliche Gedankenführung, sondern lediglich ein sprunghaftes Aufgreifen und Fallenlassen und Wiederaufgreifen von Motiven kreuz und quer durch ein Jahrhundert. Schon der Einleitungsteil leidet diesen Mangel.

Frau König, das Thema ist super, die Quellenbestände, die Sie erschlossen haben, sind aufregend; aber warum gehen Sie so sparsam mit erhellenden Ideen um? Verweist die Zurückhaltung bei der analytischen Durchdringung auf eine neue kulturwissenschaftliche Vorgehensweise, die ich noch nicht recht verstanden habe? Wenn das so wäre, dann hätten Sie darüber zumindest in der Einleitung Auskunft geben sollen, um Mißverständnissen und Verrissen vorzubeugen. Leider fehlt auch ein abschließendes Resümee, das manches hätte klarerstellen können.

Empfohlene Zitierweise:

Harm-Peer Zimmermann: Rezension von: Gudrun M. König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780-1850, Wien: Böhlau 1996, in: INFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=356>

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