Britta Rupp-Eisenreich / Justin Stagl (Hg.): Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780-1918 (L'anthropologie et l'état pluri-culturel: Le cas de l'Autriche, de 1780 à 1918 environ), Wien: Böhlau 1995, 312 S., ISBN 3-205-98146-4, DM 68,00
Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 43 (1998)
Rezensiert von:
Stefan Neumann
Bonn
Der Fall des eisernen Vorhangs hatte und hat, insbesondere in den Gebieten der ehemaligen Vielvölkerstaaten Jugoslawien und Sowjetunion, eine Vielzahl kriegerischer Konflikte zur Folge, die unter Berufung auf die nationale, ethnische oder kulturelle Eigenart der beteiligten Parteien geführt werden. Vordergründiges Ziel dieser Auseinandersetzungen ist es, ethnisch-kulturelle Grenzen mit Staatsgrenzen in Übereinstimmung zu bringen. In der Ethnologie und verwandten Disziplinen erfahren diese Vorgänge eine Parallele dadurch, daß diese Wissenschaften - wenn auch nur langsam und verhalten - ihren selbstgewählten Elfenbeinturm verlassen und sich verstärkt den Entstehungsbedingungen ethnisch begründeter nationaler Kollektive und den Beziehungen zwischen solchen Kollektiven zuwenden. Dabei gerät auch die eigene Rolle in solchen Prozessen ins Blickfeld, sei es durch die direkte Beteiligung von Ethnologen (oder anderen Kulturwissenschaftlern) an der Begründung solcher Kollektive und ihren Ansprüchen oder in Form der Nutzung ethnologischer "Erkenntnisse" durch ihre Protagonisten. Vor dem Hintergrund, daß, wie Britta Rupp-Eisenreich in ihrem einleitenden Beitrag zum vorliegenden Band feststellt (S. 10), (national gesinnte) Politik und Ethnologie/Anthropologie grundlegende Konzepte gemein haben - Volk, Nation, Ethnizität, Sprache, Kultur etc. - tut eine solche Selbstreflektion wahrlich Not. Nicht zuletzt bewirkt doch diese konzeptuelle Nähe, daß die Beschreibung und Analyse von Nationalismen und/oder ethnisch begründeten politischen Bewegungen oftmals in die Falle der Selbstdarstellung der Protagonisten solcher Bewegungen laufen.
Vor diesem Hintergrund versteht sich der hier vorgestellte Sammelband, Ergebnis eines 1989 in Paris veranstalteten Kolloquiums, als Beitrag zur Analyse der Verschränkung und wechselseitigen Beeinflussung von politischem Gemeinwesen und (Kultur-)Wissenschaft am Beispiel der Donaumonarchie in der Zeit zwischen 1780 bis 1918. In dem einführenden und programmatischen Beitrag der Herausgeberin werden dabei als Leitfragen formuliert: Gibt es eine spezifisch österreichische Tradition in den Kulturwissenschaften, insbesondere der Ethnologie/Anthropologie/Volkskunde, und wenn ja, welche Funktion übernimmt sie im Vielvölkerstaat? Lassen sich darüber hinaus verschiedene Ansätze im Einzugsbereich der verschiedenen Nationalitäten ausmachen und welche Rolle spielen sie hinsichtlich ihrer Selbstdefinition? Schwerpunktmäßig soll dabei die deutschsprachige Tradition in der Donaumonarchie untersucht werden, im Unterschied insbesondere zu derjenigen in Preußen/Deutschland.
Während für Britta Rupp-Eisenreich die Spezifität der österreichischen Kulturwissenschaft ("Ethno-Anthropologie") so in der besagten Zeit eine offene Frage darstellt, ist ein österreichischer Sonderweg für Mitherausgeber Justin Stagl bereits ein ausgemachter Tatbestand. Er konstatiert den "Sonderfall einer übernationalen Subtradition", eine "die Nationen überlagernde und zusammenfassende kakanische Gesamttradition" als "speziell österreichische Geistesrichtung" (S. 25), durchaus und auch zu seinem Leidwesen marginal im Verhältnis zu den anderen und historisch dominanten "nationalen Subtraditionen", zumindest in der ihn interessierenden Ethnologie. Eine solche Gegenüberstellung ist freilich nicht unproblematisch, denn die von Stagl genannten dominanten nationalen Subtraditionen - etwa die englische oder französische - nahmen bestenfalls gegen Ende der hier betrachteten Zeit Gestalt an, wie überhaupt die Ethnologie selbst als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Gleichsam problematisch ist die in Stagls Ansatz enthaltene Unterstellung, daß Nationen oder Staaten eine staatstragende bzw. nationale Wissenschaft hervorbringen, was sich in der Ethnologie etwa schon dadurch abzeichne, daß man die Kollegen aus anderen Nationen schlicht wegen der sprachlichen Barrieren nicht zur Kenntnis nehme (S. 23). Allein eine kurze Exkursion in die Literaturverzeichnisse ethnologischer Klassiker oder auch die Biographien ihrer Verfasser lassen Zweifel an dieser Ansicht aufkommen. Und auch der hier besprochene Band zeigt deutlich genug auf, daß für die Herausbildung ethnologischer (wissenschaftlicher) Traditionsgemeinschaften persönliche Netzwerke zwischen Wissenschaftlern auf der Grundlage etwa einer gemeinsamen Thematik oder einer erforschten Region ebenso bedeutsam, wenn nicht gar wichtiger sein können als der nationale oder staatliche Hintergrund des wissenschaftlichen Unterfangens. Nahezu alle Beiträge des Bandes lassen so die vielfältigen persönlichen Kontakte von Wissenschaftlern innerhalb der Donaumonarchie wie auch über ihre Grenzen hinaus erkennen. Daher bemerkt Rupp-Eisenreich zu Recht, daß die Klärung der Frage nach der Spezifität einer nationalen bzw. staatlichen Wissenschaftstradition zunächst einmal voraussetzt, festzustellen, welcher Art die Kontraste dieser Tradition in Bezug auf andere linguistische, nationale oder territoriale Traditionen sind, und zum anderen, auf welche Weise Ideen und wissenschaftliche Praxis auf internationaler Ebene konvergieren. Nicht zuletzt heißt dies ihr zufolge auch, die Frage aufzuwerfen, ob es überhaupt legitim ist, von verschiedenen "nationalen Schulen" welcher Disziplin auch immer im Innern der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu sprechen (S. 92-93), oder ob es sich bei der Unterscheidung solcher Schulen nicht eher um darstellerische Bequemlichkeiten handelt.
In Bezug auf die Diskussion der eingangs genannten Leitfragen sind die 19 in dem Band erschienenen Beiträge - neben den einführenden Bemerkungen der Herausgeber - von sehr unterschiedlicher Qualität und Tragweite und lassen sich entsprechend in mindestens zwei Kategorien einteilen. Die zehn Artikel der ersten Kategorie befassen sich bestenfalls am Rande mit der Problematik oder sie überlassen es gänzlich der Leserin oder dem Leser, die entsprechenden Verbindungslinien herzustellen. Die Autorinnen und Autoren beschränken sich vielmehr in ihren Arbeiten auf die Würdigung des wissenschaftlichen Schaffens verschiedener österreichischer Autoren, ohne dabei speziell österreichische Momente zu benennen oder herauszuarbeiten, oder sie geben einen historischen Überblick über die Betrachtung regionaler und/oder thematischer Sachfragen in der Donaumonarchie. Ungeachtet der Qualität dieser Beiträge drängt sich hier die Frage auf, warum sie in einem Band mit der genannten Fragestellung überhaupt erscheinen.
So beschränkt sich Christian F. Feest beispielsweise auf eine chronologische Rückschau über die Entwicklung der Ethnologie bis hin zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin von der k.k. ethnographischen Sammlung (1806) bis zum Institut für Anthropologie und Ethnographie (1913) (S. 113-127).
Josef Kreiner dokumentiert seinerseits die Japanforschung in Österreich von den ersten Kontakten zwischen den Habsburgern und Japan in Form einer bereits 1595 in der Sammlung Erzherzog Ferdinands II inventarisierten Lackschale (S. 154) bis zu den heutigen Ausstrahlungen eines spezifischen, d.h. völkerkundlich-vergleichenden, Wiener Ansatzes in der Japanologie (S. 165-167). Obwohl sich der Autor dabei allein auf die Schilderung der thematischen Schwerpunkte österreichischer Wissenschaftler oder auch in österreichischen Diensten stehender Verwaltungsbeamter anderer Nationalität begrenzt, kommt er immerhin zu dem Schluß, daß die Frage, ob dieser spezifische Ansatz "auf Einflüsse einer multinationalen Gesellschaft zurückgehe" oder ob es sich dabei eher um die "Ausbildung einer 'Schule' durch Einzelpersönlichkeiten" handele, angesichts fehlender vergleichender Studien derzeit nicht abschließend behandelt werden könne (S. 167). Die Freude am Detail bei der Schilderung der persönlichen Beziehungen zwischen österreichischen Japanforschern erstreckt sich leider nicht auf das Literaturverzeichnis.
Der Grazer Soziologe Karl Acham skizziert in seinem Beitrag die Konflikttheorie Ludwig Gumplowicz', indem er deren inhaltliche Aspekte um realhistorische Daten aus der Habsburgermonarchie ergänzt. Dabei läßt er die Frage nach einem kausalen Zusammenhang zwischen historischem Setting und Theorie offen, wobei er zu Recht darauf verweist, daß "wissensoziologische Analysen ... dem Wahrheitsgehalt von Theorien nichts anhaben (können)" (S. 171).
In weiteren Beiträgen aus dieser ersten Kategorie befassen sich Stéphane Yerasimos mit den Eindrücken osmanischer Gesandter in Wien - die sich augenscheinlich insbesondere von den mehrstöckigen Bauten beeindrucken ließen - zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert (S. 28-37); Joan Leopold mit der Stellung von "Kultur" und "Gesellschaft" in den gegen Ende des 18. Jahrhunderts verfaßten universalgeschichtlichen Entwürfen von Joseph Ernst Mayer, Franz Joseph Mumelter, Marc Anton Gotsch und Franz Michael Vierthaler (S. 64-72); Marion Melk-Koch mit dem Wirken und Werken von Felix von Luschan und Richard Thurnwald in Berlin (S. 132-140); Angela Kremer-Marietti mit dem Zusammengehen von Sprachwissenschaft und Ethnologie bei Fritz Mauthner; Marc Petit mit dem Orientmythos im Frühwerk des Religionsphilosophen Martin Buber; Josef Franz Thiel mit dem Urmonotheismus des Pater Wilhelm Schmidt (dessen heutige Unhaltbarkeit er mittlerweile einräumt); sowie Jacques Le Rider mit dem Kriminologen Hans Gross und dessen Sohn, dem Psychoanalytiker Otto Gross.
In den verbleibenden und stärker an der Thematik ausgerichteten Aufsätzen der zweiten Kategorie stehen deutlich Rolle, Funktion und Selbstverständnis sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung in der Habsburgermonarchie im Vordergrund. Eindringlich wird der nach Modernisierung, Zentralisierung und Rationalisierung des Staates sowie nach sozialen Reformen strebende Josephinismus als Nährboden für die Herausbildung einer empirischen qualitativen und quantitativen Sozialforschung herausgearbeitet, als dessen Erfüllungsgehilfe sich diese Forschung wiederum verstand. In seiner Abhandlung über den "Patriotic Traveller" des Grafen Leopold Berchtold, einer Anleitung zur umfassenden Landesbeschreibung für Reisende aus dem Jahre 1787, verweist insbesondere Justin Stagl auf die patriotischen, philanthropischen und pietistischen Wurzeln landes- und sozialkundlicher Rundreisen und Umfragen, deren Ziel letztlich darin bestand, das Volk erst einmal genau kennenzulernen, bevor man es reformierte. "Liebe zum Vaterland" war auch für den von Rupp-Eisenreich beschriebenen Baron Carl Czoernig (1804-1889) als leitenden Funktionär in der "Direktion für administrative Statistik" die Triebfeder für sein Streben nach Wissen als Voraussetzung für die praktische Gestaltung des Staatswesens und des Zusammenlebens der Völker. Die von diesem Autor vorangetriebene statistische und kartographische Erfassung der in Österreich-Ungarn siedelnden Volksgruppen hatte laut Rupp-Eisenreich das Ziel, dem schwelenden Nationalitätenstreit die soziale Sprengkraft zu nehmen, indem er damit den Weg für eine den Bedürfnissen der Völker entsprechende Verfassung zu ebnen glaubte: die ethnographische Autopsie des Staates als Mittel zur gleichberechtigten Teilhabe der konstitutiven Elemente und Grundlage für eine reelle Regierungspolitik. Die dem Josephinismus eigenen praktisch-planerischen Aspekte lagen auch der von Mohammed Rassem beschriebenen Statistik/Volkskunde des Erzherzogs Johann zugrunde, wenngleich sich dessen landeskundliche Aktivitäten in Opposition zur Wiener Politik und zum dortigen Lebensstil mit einer nationalistisch-romantisierenden Hinwendung zur hauptsächlich ländlichen und deutschsprachigen Bevölkerung Innerösterreichs verbanden. Damit weniger auf Ausgleich und Koexistenz bedacht, wertet Rassem Johanns Volkskunde als Form eines "'aufgeklärten Landespatriotismus', den man auch aus anderen Ländern der Monarchie kennt, jeweils mit anderen ethnischen Vorzeichen" (S. 74). Robert A. Horváth beleuchtet den Werdegang der josephinischen Sozialforschung mit Blick auf die ungarischen Territorien der Monarchie, wo angesichts der angestrebten Reformen der Mangel an Informationen aufgrund der türkischen Herrschaft besonders spürbar war. Er zeigt auf, wie Statistik - hier quantitativ verstanden - und Ethnographie zunächst eine Symbiose eingingen, um insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß des romantischen Nationalismus und der deutschen Volkskunde wieder auseinanderzufallen. Aus dieser Perspektive wird allerdings auch deutlich, daß eine Politik der friedlichen Koexistenz dem Josephinismus keineswegs inhärent war, denn Ziel der landeskundlichen Erfassung Ungarns war nicht nur der Aufbau eines geeinten Reiches, sondern auch dessen Germanisierung (S. 39).
Diese Beiträge werden sinnvoll ergänzt durch den Aufsatz des Salzburger Historikers Georg Schmid über die auf Anregung und unter Mitwirkung des Thronfolgers Rudolph und daher auch als "Kronprinzenwerk" bekannt gewordenen 24 Bände der Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild (1886-1902). Als Ergebnis seiner Analyse von Sprache und bildlichen Darstellungen entpuppt sich dieses Werk weniger als Versuch, Wirklichkeit abzubilden, denn als Versuch, Wirklichkeit zu konstruieren. Die wiederkehrende Darstellung der Völker der Monarchie als gleichberechtigt und gleichwertig, der ebenso stets propagierte wechselseitige Nutzen dieser Völker untereinander - sozial, kulturell und ökonomisch -, sind laut Schmid zu verstehen als Handlungsanleitung für ihre tatsächliche Emanzipation, als patriotische Beschwörung eines künftigen Staates. Durch und durch Semiotiker versteht es allerdings der Autor vortrefflich, seine Botschaft in einem Dickicht sprachlicher Wendungen zu verschlüsseln. Ein kurzes und willkürliches Lesebeispiel: "Die einzelnen Bände lesend, vermeint man, der Argumentation - also dem Diskurs - entspreche ein auf-, ein nachgezeichneter Parcours, ein Parkurs. Als Autoren fungieren anerkannte Fachleute von bestem 'Standing'. Diese Autoren figurieren auch kraft ihres Gewichts, des Gewichts ihrer Namen, in dieser Selbstdarstellung der Donaumonarchie: sie sind Aktanten. Anders ausgedrückt: sie stellen das Relais dar, das die Übersetzung zwischen einer 'äußeren' Realität und ihrer Beschreibung ermöglicht; ihre spezifische Kondition besteht vermöge ihrer Vermittlerrolle: sie sind gleichsam Scharniere" (S. 101-102).
Das Thema der friedlichen Koexistenz der Völker findet sich schließlich auch in weiteren Beiträgen Justin Stagls über Bronislav Malinowski und Ernest Brandewies über die weniger bekannten staatspolitischen Entwürfe Pater Wilhelm Schmidts vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Brandewies verdeutlicht die Verbindungslinien zwischen Schmidts ethnologischen Überzeugungen und seinem politischen Engagement für den Erhalt des Habsburgerstaates. In Anlehnung an Gellner führt Stagl den Funktionalismus Malinowskis auf die geistigen Strömungen im Vielvölkerstaat der Jahrhundertwende zurück und zeigt überdies auf, wie dieses Umfeld sich auch in der Übernahme einer "austroslawischen Position" durch Malinowski niedergeschlagen hat, die die Vereinbarkeit des Bekenntnisses zur "eigenen" Volksgruppe und dynastischer Loyalität zum Inhalt hatte und die damit in der politischen Verfaßtheit der Donaumonarchie die Lösung von Minoritätenproblemen sah (S. 285).
Diese auch von den anderen der in diesem Band besprochenen Autoren vertretene Position wurde offenkundig von den Nationalitäten selbst nicht geteilt. Die eigentlich als zentral angekündigte Behandlung der Selbstdefinition der Nationalitäten, ihrer Ursachen und Wirkungen, wird allerdings in dem vorliegenden Band weitgehend ausgespart. Allein Endre Kiss befaßt sich in seinem Aufsatz über Nation und Ethnizität in der politischen Gedankenwelt des dualistischen Ungarn (S. 208-216) mit dieser Frage. Insbesondere anhand der Vision des "Wolgareiters", einer zentralen Figur in der Literaturgeschichte Zsolt Beöthys aus dem Jahre 1896, zeichnet Kiss nach, wie der ungarische Nationalismus sich in einer augenscheinlich objektiven und überzeitlichen Ethnizität niederschlägt (und sich gleichzeitig durch diese legitimiert), in der Kollektiv und Individuum bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschmelzen.
In einigen weiteren Artikeln erscheint allerdings die Frage der Selbstdefinition der Nationalitäten doch am Rande, immer dort nämlich, wo es um die Nationalität der besprochenen Wissenschaftler geht. Leider kommt es dabei in keiner Weise zu einer Betrachtung der eigentlich interessierenden Frage(n), nämlich: Was ist (war) eigentlich österreichisch, wer ist oder war überhaupt Österreicher und welche Bedeutung wurde auf welcher Grundlage solchen ethnischen oder nationalen Zugehörigkeiten eingeräumt? Vielmehr wird offenkundig, daß gerade solche Fragen eine Vielzahl von Fettnäpfchen bereithalten, die nicht dadurch aufgelöst werden, daß man sie umgeht. Welches Nationalitätskonzept unterliegt etwa Rupp-Eisenreichs Ausführungen, wenn sie die "Wiener Schule" als genuin österreichischen Beitrag schon allein dadurch in Frage stellt, daß sie auf die westfälische Herkunft P. Wilhelm Schmidts verweist, des Gründers und renommiertesten Vertreters dieser "Schule"? Kreiner hat demgegenüber keine Schwierigkeiten, Heinrich von Siebold als gebürtigen Deutschen in österreichischen Diensten in seine Sammlung österreichischer Japanforscher aufzunehmen (S. 160-162). Und worin besteht für Melk-Koch der österreichische Einfluß auf die Ethnologie in Deutschland durch die im übrigen zumindest auch sehr "deutschen" Werke von Luschan und Thurnwald? Diente sich etwa Thurnwald nicht den Nationalsozialisten an und beteiligte er sich nicht an den Entwürfen zur "kolonialen Gestaltung" des Reiches? Überwogen hierbei nun "deutsche" oder "österreichische" Einflüsse?
Thematisch etwas abseits der bislang vorgestellten Aufsätze der zweiten Kategorie bewegt sich Aldo Battaglia mit einem Beitrag, in dem er eine nationalistische Prähistorie einer universalistischen gegenüberstellt. Während er erstere vor allem in Deutschland verwirklicht sieht, scheint ihm letztere eher für Österreich bezeichnend. Dabei erscheint allerdings die Auswahl der drei österreichischen Prähistoriker, die er zur Untermauerung seiner These heranzieht, Moritz Hoernes (1852-1917), Karl Felix Wolff (ca. 1880-1960) und Oswald Menghin (1888-?), etwas erzwungen, wenn nicht gar kontraproduktiv. Denn sowohl Wolff als auch Menghin entpuppen sich nach Battaglias eigener Darstellung als dezidierte Rassisten, Kennzeichen der zuvor von ihm herausgearbeiteten nationalistischen (deutschen) Prähistorie. Wolff etwa verläßt die Prähistorie nur, um sich zu einem volkstümelnden Ethnographen (in und über Tirol) zu mausern und Menghins Nähe zur nationalsozialistischen Rassenkunde ist kaum zu übersehen. Battaglia verdeutlicht damit einen Zug, der den gesamten Band durchzieht, bestehend in einer überaus unkritischen, ja geradezu liebevollen Haltung den besprochenen Autoren - und den Inhalten ihrer Werke - gegenüber. Einigermaßen verzeihbar ist dabei noch der fehlende Hinweis auf die kolonialethnologischen Aspekte josephinischer Sozialforschung. Völlig unverzeihlich ist demgegenüber aber z.B. die unkommentierte Schilderung der Kriegsgefangenenvermessung und Erkundung ihrer anthropologischen Eigenschaften durch Luschan oder dessen Veranstaltungen zur physischen Anthropologie, "dienstags von drei bis fünf Uhr, mit Demonstrationen" an "Farbigen" im Artikel von Melk-Koch (hier S. 132-134).
Nach dieser kurzen Übersicht über das vorliegende Buch scheint mir die Frage nach einer spezifischen österreichischen Kulturwissenschaft eher verneint als bejaht werden zu müssen. Die skizzierte Entstehung der empirischen Sozialforschung war keineswegs ein österreichisches, sondern ein eher gesamteuropäisches Phänomen. Festgehalten werden kann, daß Ethnologie wie auch verwandte Disziplinen Staaten und Nationen ebenso transzendieren wie mit ihnen verwoben sein können. Die Ankündigung, einen verkannten Beitrag Österreichs zur Wissenschaftsgeschichte insbesondere in Bezug auf die Rolle der Kulturwissenschaften hinsichtlich der Selbstdefinition der Nationalitäten ins Bewußtsein zu rücken, löst der Band damit allerdings nicht ein. Zur Klärung dieser Problematik wäre in jedem Fall eine reflexive Diskussion der Beiträge im Hinblick auf die selbstgewählte Fragestellung durch die Herausgeber wünschenswert und in dem Zeitraum zwischen der Tagung und der Veröffentlichung wohl auch machbar gewesen. In der vorliegenden Form bietet das Buch so eher einen ebenso kursorischen wie mosaikartigen Einblick in Episoden der Geschichte der Kulturwissenschaften in Österreich, vergleichbar den ethnologischen Kuriositätensammlungen der Zeit.
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Neumann: Rezension von: Britta Rupp-Eisenreich / Justin Stagl (Hg.): Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780-1918 (L'anthropologie et l'état pluri-culturel: Le cas de l'Autriche, de 1780 à 1918 environ), Wien: Böhlau 1995, in: INFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=357>
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