Peter Oestmann: Hexenprozesse am Reichskammergericht (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 31), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1997, XIV + 699 S., ISBN 3-412-01597-0, DM 128,00
Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 43 (1998)
Rezensiert von:
Peter Arnold Heuser
Bonn
Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Aktenbestand des Reichskammergerichts (= RKG), der bis dato im Wetzlarer Archiv lagerte, mit Ausnahme eines "untrennbaren Bestandes" je nach Klägerprovenienz auf regional zuständige staatliche und städtische Archive im In- und Ausland verteilt. Die extreme Zersplitterung der RKG-Akten auf fast 50 Archive macht seither jeden Versuch, sich einen Gesamtüberblick über die Rechtspraxis dieses Reichsgerichts auf einem oder mehreren Deliktfeldern zu verschaffen, zu einer enormen Fleißarbeit, aber auch zu einer finanziellen Anstrengung.
Der Jurist Peter Oestmann hat im Rahmen seiner Dissertation, die er bei dem Rechtshistoriker Wolfgang Sellert in Göttingen anfertigte, den unvermeidlichen Reise- und Kostenaufwand nicht gescheut und sich am Beispiel des Deliktfeldes Zauberei und Hexerei der Fleißarbeit einer Gesamtdurchsicht aller einschlägigen RKG-Akten unterzogen. In Bezug auf die Aktenauswertung strebt seine Studie Vollständigkeit an (S. 14). Sie weist 255 RKG-Verfahren mit Bezügen zum Hexereidelikt nach. Verdientermaßen wurde die Dissertation, die Defizite in der fachjuristischen Aufarbeitung der kammergerichtlichen Tätigkeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege im allgemeinen und auf dem Deliktfeld Zauberei und Hexerei im besonderen ausgleicht, 1997 mit dem Förderpreis der Friedrich-Spee-Gesellschaft e. V. Trier ausgezeichnet.
Nach einleitenden Hinweisen zu Forschungsstand, Forschungsziel, Quellenlage und Vorgehensweise (S. 1-24) sowie nach einer knappen thematischen Einführung Hexenglaube und Hexenprozesse in Deutschland (S. 25-40) beschreibt Oestmann im ersten Hauptteil der Studie (S. 41-87) die kammergerichtlichen Verfahrensarten, in denen Zauberei- und Hexensachen vom RKG verhandelt wurden, obgleich dieses Reichsgericht ebenso wie der Reichshofrat für die Strafrechtspflege und als Appellationsinstanz für "peinliche" Gerichtsfälle an sich unzuständig war: "Wenn Appellationprozesse mit Bezügen zu Strafsachen am RKG geführt wurden, so war der Hauptstreitgegenstand dieser Verfahren nicht die Straftat an sich, sondern ein nichtstrafrechtlicher Nebenaspekt. Wer versuchte, Strafprozesse in materiell- und formellrechtlicher Hinsicht vom RKG im Appellationswege überprüfen zu lassen, scheiterte dagegen" (S. 53). Die fundierte, zuverlässige Übersicht über Zuständigkeit, Eingriffsmöglichkeiten und Verfahren des Kammergerichts in Hexensachen korrigiert viele irrige Vorstellungen, die Hexenprozeßstudien auch neueren Datums von den Kompetenzen des RKG und den dort gepflegten Verfahrensarten verbreiten. Oestmann zeigt, wie unterschiedlich sich - je nach der gewählten Verfahrensart - ein untergerichtlich gleichartiges Geschehen im Rahmen eines Kameralprozesses darstellen konnte, und klärt, wann das RKG berechtigt oder nicht berechtigt war, sich inhaltlich zur Prozeßmaterie, also zum Hexereidelikt selbst, oder zum untergerichtlichen Prozeßverfahren zu äußern. Die sorgfältige Rekonstruktion des Kameralprozesses in Strafsachen, die Oestmann vorlegt, verdient, von den Verfassern künftiger Regional- und Mikrostudien zur frühneuzeitlichen Strafgerichtsbarkeit im Alten Reich beachtet zu werden. Wurden doch die RKG-Ordnungen und der kammergerichtliche Prozeß schon im 16. Jahrhundert von territorialen Hofgerichten adaptiert. Alles, was Oestmann über kammergerichtliche Jurisdiktionsprozesse, über zivilrechtliche Appellationsprozesse, Injurienprozesse, Nichtigkeits- und Mandatsverfahren zu sagen hat, ist deshalb auch für den Bearbeiter territorialer Hofgerichtsakten interessant.
Der zweite Hauptteil (S. 88-323) untersucht die Rechtsprechung des RKG zum Hexereidelikt (S. 88-143) und zum Hexenprozeß (S. 144-313). Der Ertrag der Studien, die Oestmann zu den materiellen und prozessualen Rechtsanschauungen der RKG-Juristen vorlegt, ist insgesamt mager. Das aber ist keineswegs Oestmanns Schuld, sondern erklärt sich aus Eigenarten der Quellenüberlieferung: Die kammergerichtlichen Urteilsbücher des 16. und 17. Jahrhunderts sind verloren, in den RKG-Prozeßakten selbst wurden die prozeßbeendenden Urteile und die zugehörigen Entscheidungsgründe normalerweise nicht vermerkt. Die Auswertung der RKG-Akten führt Oestmann zu dem ernüchternden Ergebnis (S. 103), "daß sich die Haltung des RKG zum Hexereidelikt anhand des überlieferten Aktenbestandes nicht klären läßt". Über die von Oestmann mitgeteilten Befunde wird sich unser Wissen um die Haltung, die einzelne RKG-Assessoren, -Prokuratoren und -Advokaten im 16. und 17. Jahrhundert zu Hexenlehre und Hexenprozeß vertraten, nur noch aus den einschlägigen Spuren erweitern lassen, die die RKG-Juristen während ihrer Vor- oder Nachkarrieren in Territorien und Städten des Reiches hinterließen: Ein komplexes Thema, für dessen Bearbeitung selbst die personengeschichtliche Grundlage noch nicht ausreichend gelegt ist und das Oestmann wegen des nötigen Recherche-Aufwands nicht zum Gegenstand seiner Studien erheben konnte.
Im dritten Hauptteil der Studie (S. 335-515) prüft Oestmann, ob und inwiefern die Rechtsprechung des RKG in Hexensachen die Hexenverfolgungen in den Territorien und Städten des Reiches beeinflußte. Er untersucht die Resonanz, die die kammergerichtliche Rechtsprechung in Hexensachen in der kameralistischen Literatur, der Strafrechtsliteratur und der Hexenliteratur fand, studiert die Rezeption der RKG-Rechtsprechung durch Juristenfakultäten und territoriale Räte, durch Hexenprozeßopfer und Hexenverfolger. Die reichsweite, nach Regionen geordnete Untersuchung, wie das RKG territoriale und städtische Hexenprozesse beeinflußte, gibt einem breiteren Leserkreis zuverlässige Informationen über die geographische Verteilung der Hexenverfolgungen im alten Reich und führt ihn in die neuere regionale Forschungsliteratur ein.
In Anhängen präsentiert Oestmann eine Chronologische Übersicht über die Reichskammergerichtsprozesse mit Bezügen zum Hexereidelikt (S. 531-597) und wertet das Quellenmaterial quantitativ-statistisch aus (S. 598-613). Ein Abkürzungsverzeichnis, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personen-, Orts- und Sachregister runden die Untersuchung ab.
Oestmanns Studie ist ein großer Wurf und wird auch längerfristig "die" Studie zum Thema "Hexenprozesse am Reichskammergericht" bleiben. Nichtjuristen, die an Regional- oder Fallstudien zu Themen der historischen Kriminologie arbeiten (keineswegs nur Bearbeiter des Deliktsektors Zauberei und Hexerei), finden hier ein sorgfältig recherchiertes und vorbildlich aufbereitetes Material, mit dessen Hilfe sie fachjuristische Defizite ihrer Studien aufspüren und beseitigen können.
Empfohlene Zitierweise:
Peter Arnold Heuser: Rezension von: Peter Oestmann: Hexenprozesse am Reichskammergericht, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1997, in: INFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=362>
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