Gertrud Angermann: Volksleben im Nordosten Westfalens zu Beginn der Neuzeit. Eine wachsende Bevölkerung im Kräftefeld von Reformation und Renaissance, Obrigkeit und Wirtschaft (Minden-Herford-Ravensberg-Lippe) (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland; 89), Münster: Waxmann 1995, 398 S., ISBN 3-89325-321-1, DM 98,00
Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44 (1999)
Rezensiert von:
Wolfgang Herborn
Bonn
Der barock anmutende Titel der Untersuchung formuliert das Ziel der Arbeit. Für den geographischen Raum Nordostwestfalen, der sich aus den im Titel angeführten historischen Landschaften (Fürstbistum Minden, Fürstabtei Herford, Grafschaft Ravensberg, Herrschaft/Grafschaft Lippe) zusammensetzt, will die Autorin die Eigenarten des Volkslebens sowie die Charakteristika dieses Raumes zu Beginn der Neuzeit herausarbeiten. Dabei möchte sie die Gründe aufzeigen, die für die frühneuzeitliche Entwicklung von Bedeutung waren: die natürlichen und historischen Voraussetzungen, die von außen wirkenden Kräfte, den Einfluß der Obrigkeit, die beherrschenden zeitgenössischen Geistes- und Religionsströmungen sowie die beigesteuerten eigenen Impulse. Dieses Ziel geht sie mit einem interdisziplinären Ansatz an, indem sie besonders die Verknüpfung einer unter sozialwissenschaftlichen Aspekten betriebenen Geschichtswissenschaft mit einer historisch arbeitenden Volkskunde anstrebt, wobei sie auch die Kunstgeschichte mit einbezieht. Die Untersuchung basiert auf der Auswertung umfangreicher gedruckter und archivalischer Quellen (Staatsarchive Detmold und Münster sowie Stadt- und Kommunalarchive Bielefeld, Herford, Lemgo, Lübbecke und Minden).
Die Autorin hat ihre Arbeit in drei große Kapitel einteilt. In dem ersten Kapitel wird die Ausgangslage um 1500 skizziert. Die beiden nächsten Kapitel behandeln das 16. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, wobei die Zäsur auf etwa 1550 gelegt wird. Alle drei Kapitel sind weitgehend parallel aufgebaut und sie werden unter vier Aspekten analysiert. Unter dem Titel Staatliche und politische Verhältnisse untersucht die Autorin die Lage in Europa und ihre Auswirkung auf die speziellen Verhältnisse im Nordosten Westfalens. Im Abschnitt über die Bevölkerung schildert sie die Existenzformen auf dem Land und in den Städten, Barrieren und Verbindungen zwischen Land und Stadt und die soziale Schichtung, in der Rubrik Denken und Verhalten werden Religion und Kirche, Kirchen- und Polizeiordnungen als lebensformende Normen, Musik, Sprache, Schule und Bildung, Musik und Tanz, Familie etc. abgehandelt und unter der Sachkultur die Bereiche Bauten, Möbel, Kleidung und Nahrung. Allein diese bei weitem nicht vollständige Aufzählung zeigt die Fülle der Bereiche, die die Autorin anspricht. Im Schlußteil faßt sie dann in zeitlichen Längsschnitten die Entwicklung in den einzelnen von ihr behandelten Teilbereichen kurz zusammen.
Zu den im ersten Kapitel angesprochenen vorgegebenen Bedingungen um 1500 zählt die Autorin die natürliche Ausstattung des Gebietes, den Stadt-Land-Gegensatz, die territoriale Einbindung, die Konfession und die Sozialordnung, um nur die wichtigsten zu nennen. Vor diesem Hintergrund untersucht sie dann die Nutzung dieser Voraussetzungen. In einem ersten Schritt behandelt sie die territorialpolitischen Gegebenheiten, die sich im Prinzip während des ganzen Untersuchungszeitraums als stabil erwiesen. In einem zweiten Schritt spricht sie die günstigen natürlichen Siedlungsvoraussetzungen an. Locker über das Land verteilte Wohnplätze und eine im Hoch- und Spätmittelalter ausgebaute Städtelandschaft von Klein- und Mittelstädten boten im 16. Jahrhundert noch die Möglichkeit, die wachsende Bevölkerung aufzufangen. Auf dem Lande wurden dabei auf Kosten der Allmende neue Ackerflächen erschlossen, in den Städten wurde die Bebauung verdichtet, indem man zum Teil den in der Reformation freigesetzten kirchlichen Grundbesitz als zusätzliche Siedlungsfläche benutzte. Auf dem Lande veränderte sich während dieses Prozesses das Siedlungsbild. Anstelle weniger großer Höfe und zahlreicher mittlerer Betriebe entstand einerseits eine Vielzahl von neuen selbständigen kleineren - oft nicht mehr lebensfähigen - Höfen, andererseits wurden aber die großen Güter ausgebaut und neue schloßähnliche Herrensitze angelegt, auf deren Ländereien die kleineren Bauern als Lohnarbeiter Beschäftigung fanden. Die Schicht der Kleinbauern fand zudem auch in der Garnnahrung einen Zusatzerwerb.
In einem weiteren Schritt untersucht die Autorin die Reformation und ihre Auswirkungen im Untersuchungsgebiet. Sie faßte zuerst in den Städten Fuß, vor allem in Herford und Lemgo. Im der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts blieben die Verhältnisse zunächst in der Schwebe, erst in der zweiten Hälfte des Säkulums setzten dann Klärungsprozesse ein, die weitgehend zu einem Sieg der protestantischen Kräfte führten. In den meisten Territorien änderte sich die Konfession unter verschiedenen Bedingungen und auf verschiedenen Wegen. Der Katholizismus behielt lediglich in Ravenberg bis 1592 die Oberhand. Nach dem Anfall an Brandenburg (1609) lebten beide Konfessionen nebeneinander. Anders verhielt es sich in den übrigen Landesteilen. Das Reichsstift Herford wurde 1565 protestantisch und Minden ging der alten Kirche nach 1583 verloren, allerdings hielten sich hier katholische Minderheiten. Lippe, das sich schon 1540 der Reformation zugewandt hatte, wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts vom Landesherrn dem Calvinismus zugeführt, was zu einer Sonderstellung des Territoriums inmitten lutherischer und katholischer Nachbarschaft führte. Das Ergebnis der konfessionellen Auseinandersetzungen war ein Ungleichgewicht zugunsten der Protestanten, das auch im Zuge der katholischen Erneuerung nicht korrigiert werden konnte. Die Autorin betont ausdrücklich den relativ geringen Anteil der Obrigkeit (mit Ausnahme von Lippe) an der Konfessionsentscheidung, die sich unter dem Einfluß der örtlichen Geistlichkeit mehrheitlich als ein von unten getragener und durchgesetzter, allmählicher Reformprozeß erwies, wobei sich zu Beginn noch konfessionelle Mischformen hielten.
Weltliche und kirchliche Obrigkeiten setzten während des Untersuchungszeitraumes dann eine patriarchalische Struktur durch, die sich auf allen Ebenen bis in die Familien hinein widerspiegelte. Das religiöse Leben wurde durch Landes- und Kirchenordnungen reglementiert. Ziel war eine einheitliche christliche Lebensführung. Auch die neue Lehre erkannte grundsätzlich die Verankerung des Menschen in gottgewollten festgefügten Standesgrenzen an. Doch die in der Renaissance entwickelte Hochschätzung des Individuums und der durch die reformatorische Bewegung geschärfte Freiheitsbegriff führten nach Meinung der Autorin dazu, daß nicht nur einzelne Menschen, sondern auch ganze Gruppen einen höheren Status anstrebten und sich mehr als früher um gewisse Statussymbole wie bessere Kleidung, aufwendige Feste oder bildliche Darstellungen bemühten. Dieser Prozeß war mit der Abwehr ähnlicher Bestrebungen bei anderen Gruppen verbunden, so daß all diese Strömungen das Sozialgefüge prinzipiell nicht zu ändern vermochten. Die Autorin warnt in diesem Zusammenhang davor, für diese Prozesse den Begriff der Sozialdisziplinierung zu verwenden, der zu kurz greife. Denn er berücksichtige nicht den Grundkonsens, der zwischen Obrigkeit und Untertanen bestand und nach dem die zu beobachtende Ungleichheit den Willen Gottes wiedergebe. Die Obrigkeit habe in diesem Rahmen die Pflicht, Gottes Willen auch auszuführen.
Einen weiteren Problemkreis spricht die Autorin mit der Wirtschaft an, die durch neue Wirtschaftsformen und Techniken verändert wurde, z.B. Mühlen, Ziegeleien, Übergang von Sichel zur Sense, Spezialisierung von Handel und Gewerbe etc.). Nutznießer dieser Neuerungen waren vor allem die Städte, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen Aufschwung erlebten, der aber vor dem Dreißigjährigen Krieg abebbte. Von diesem Aufschwung zeugen bis heute die erhaltenen städtischen Bauten. Diese Entwicklung führte dazu, daß die Kluft zwischen Arm und Reich sowie der Gegensatz zwischen Stadt und Land wuchsen. Auf die Erwähnung weiterer behandelter Problemkreise muß verzichtet werden.
Zum Schluß kommt die Autorin unter dem Titel Sachkultur auf die Zusammenhänge der immateriellen und materiellen Kultur zu sprechen, die sie als Ausdruck gesellschaftlicher und mentaler Veränderungen wertet. Der gravierende Einschnitt des Jahrhunderts war natürlich die Reformation. Das neue Verständnis von Glauben und Kirche, wie es sich in den protestantischen Teilen des Gebiets durchsetzte, schlug sich auch in Kirchenneubauten, Kirchenausstattung und kirchlichen Bräuchen nieder. Dienten die Kirchenneubauten vor der Reformationszeit der Verherrlichung der Kirche, so wurden die neuen Gotteshäuser den Bedürfnissen der Gemeinde angepaßt. Die überladene Kirchenausstattung (Bilder, Statuen, Altäre) wich schlichteren Formen und wurde im calvinistischen Lippe fast ganz beseitigt. Meß- und Altarstiftungen gab es kaum noch, nur die Sozialeinrichtungen blieben bestehen. Die Oberschicht, die solche Stiftungen machte, verlagerte ihre Finanzmittel aus dem kirchlichen in den privaten Sektor, ein typischer Zug der Renaissancezeit. Unter diesen Umständen entwickelte sich eine neue Wohnkultur: die Bauten wurden erweitert und aufgestockt, Häuserfronten wurden architektonisch ausgestaltet und künstlerisch verziert, die Innenausstattungen kostspieliger. Die im allgemeinen quellenmäßig besser dokumentierten herrschaftlichen Haushalte werden dabei von der Autorin auf ihrer Vorbildfunktion für rangniedrigere soziale Gruppen untersucht. Im Bereich der Kleidung vergleicht sie Kleiderordnungen mit Nachlaßinventaren und vermag auf diese Weise das Verhältnis zwischen Norm und Wirklichkeit genauer zu fassen. Sie zeigt dabei, daß man nicht nur beim Wohnen und Kleiden, sondern auch bei Essen und Trinken bestrebt war, die nächsthöhere gesellschaftliche Rangstufe zumindest partiell zu erreichen. Wir wollen hier abbrechen, denn es würde zu weit führen, den Materialreichtum der Arbeit im einzelnen aufzuführen.
Die Frage nach der Eigentümlichkeit des Nordosten Westfalens zu Beginn der Neuzeit versucht die Autorin zum Schluß kurz zu beantworten. Die Geschichte von Nordost-Westfalen hält sie - wie jede andere Regionalgeschichte auch - für unverwechselbar, wenn sie auch im hohen Maße Übereinstimmungen mit den benachbarten Teilregionen konstatieren kann, in denen dieselben Voraussetzungen gegeben waren. Denoch hat sie keinerlei Beleg gefunden, der berechtigen würde, von "typisch westfälisch" zu sprechen, vielmehr sind in diesen Landstrichen die zeitgenössischen Strömungen (Reformation, Renaissance, Humanismus) lokalspezifisch verarbeitet worden mit starker Initiative von Seiten der Bevölkerung. Dementsprechend konnte sie "kein scharf geschnittenes Profil, eher ein Porträt" (S. 314) von dieser Region herausarbeiten. Doch dieses Porträt, das in einem sehr flüssigen Stil sowie einer verständlichen und klaren Sprache geschrieben ist und zahlreiche Karten und textbezogene Abbildungen enthält, ist ein gewichtiger Beitrag zum Volksleben einer ferner stehenden Epoche und ein Beweis für die Fruchtbarkeit interdiziplinärer Arbeitsweise.
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Herborn: Rezension von: Gertrud Angermann: Volksleben im Nordosten Westfalens zu Beginn der Neuzeit. Eine wachsende Bevölkerung im Kräftefeld von Reformation und Renaissance, Obrigkeit und Wirtschaft (Minden-Herford-Ravensberg-Lippe), Münster: Waxmann 1995, in: INFORM 1 (2000), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=369>
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