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Susanne Grindel / Winfried Speitkamp (Hg.): Armenfürsorge in Hessen-Kassel. Dokumente zur Vorgeschichte der Sozialpolitik zwischen Aufklärung und Industrialisierung (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; Bd. 62), Marburg: Elwert 1998, XXII + 269 S., ISBN 3-7708-1100-3, DM 57,00

Aus: Nassauische Annalen (Bd. 111 (2000), S. 546-547)

Rezensiert von:
Peter Blum

Die Phase des Übergangs von der Wohlfahrtspolitik des 18. Jh.s zur modernen Sozialpolitik ab etwa dem Ende des 19. Jh.s bildet den zeitlich-thematischen Schwerpunkt der vorliegenden Quellenedition. Die Hrsg. begründen diese Ausrichtung u.a. mit einem in der Vergangenheit durchaus als einseitig zu bezeichnenden Forschungsinteresse, desssen verengender Blick einerseits auf die spektakulären Folgen von Armut im 19. Jh. gerichtet war, auf sichtbares Massenelend, dadurch provozierte bürgerliche Debatten sowie plakative Unterschichtenproteste. Andererseits orientierte sich die Forschung dabei meist an den institutionell am ehesten greifbaren Vorkehrungen der Armenfürsorge, nämlich an Waisen-, Arbeits- und Zuchthäusern und vergleichbaren Anstalten, und zwar insbesondere auf kommunaler Ebene. So gesehen blieb der Umgang mit Armut und den Armen am Vorabend der Industrialisierung ganz überwiegend eine kommunale Angelegenheit.

Freilich läßt sich die Armutsthematik derart kaum in ihrer ganzen Vielfalt, geschweige denn in der ihr eigenen Heterogenität abbilden. Vielmehr stellen die Hrsg. fest, daß der Umgang mit Armut bis zur Reichsgründung experimentierend und kontrovers blieb und eine Bewältigung des quantitativ wie qualitativ neuen Phänomens noch nicht möglich war (S. XIV). Immerhin war im Untersuchungszeitraum im Schnitt weit mehr als ein Drittel der Bevölkerung dauernd oder vorübergehend von Armut, Hunger und Verelendung bedroht.

Diesen Spannungsbogen von dem Bemühen um politische Lösungen bis hin auch zu den Grenzen staatlicher Intervention vergegenwärtigt die vorliegende Quellenedition, übrigens die erste ihrer Art für ein deutsches Territorium, nämlich für das Kurfürstentum Hessen(-Kassel) im 19. Jh. Bei den Quellen handelt es sich überwiegend um bislang ungedrucktes Material, insbesondere aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg. Die schlüssige Gliederung der Dokumente erleichtert wesentlich das rasche Auffinden der für den jeweils interessierenden Aspekt gesuchten Quellen. Mehr noch erweist sie sich mit ihren vier Schwerpunkten auch für überblickshafte sowie umfassende Annäherungen als äußerst glücklich gewählt. Im ersten Abschnitt geht es um die Erscheinungsformen von Armut und Bettelei und deren Bekämpfung durch Notstandsmaßnahmen und Bettelrepression (Dokumente 1-27). Das zweite Kapitel beinhaltet Dokumente zur Armengesetzgebung, beschreibt u.a. den Weg der Verrechtlichung (Dokumente 28-57). Quellentexte aus der Armenverwaltung auf kommunaler Ebene einschließlich kirchlicher und privater Fürsorgeinitiativen bilden den dritten Abschnitt (Dokumente 58-87). Im letzten Kapitel schließlich sind jene Texte zusammengestellt, die sich mit der institutionellen wie privaten Waisenversorgung, der Einrichtung und Verwaltung der Anstalten, der Aufnahme in die Anstalten sowie mit der Unterbringung und dem Anstaltsalltag beschäftigen (Dokumente 88-109).

Zum besseren Verständnis wurden die Quellentexte in Orthographie und Zeichensetzung modernisiert, zeittypische Begriffe indessen beibehalten. Im jeweils vorangestellten Dokumentenkopf finden sich eine Überschrift nebst knapper Beschreibung des Dokuments, mitunter auch die Originalüberschrift, zudem der Verfassername, die Datierung und der Fundort. In den Fußnoten erhält der Leser nähere Erläuterungen und weitergehende Informationen (z.B. auf bedeutendere Personen) sowie Querverweise. Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Verzeichnis der Münzen, Maße und Gewichte sowie ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Sekundärliteratur bereichern die Edition ebenso wie die am Schluß beigegebenen alphabetischen Verzeichnisse von auftretenden Personen, Orten und Sachen.

So zeigt sich die Edition gleichermaßen mustergültig ausgestattet bzw. erschlossen. Es steht sehr zu hoffen, daß der von den Hrsg.n beabsichtigte Anstoß zu einer stärkeren Diskussion über die Übergangsgesellschaft und die Merkmale einer besonderen Armenpolitik zwischen Aufklärung und Industrialisierung zündet.

Empfohlene Zitierweise:

Peter Blum: Rezension von: Susanne Grindel / Winfried Speitkamp (Hg.): Armenfürsorge in Hessen-Kassel. Dokumente zur Vorgeschichte der Sozialpolitik zwischen Aufklärung und Industrialisierung, Marburg: Elwert 1998, in: INFORM 1 (2000), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=383>

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