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Dietlind Hüchtker: "Elende Mütter" und "liederliche Weibspersonen". Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770-1850) (= Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft; Bd. 16), Münster: Westfälisches Dampfboot 1999, 310 S., ISBN 3-89691-432-4, DM 68,00

Aus: Nassauische Annalen (Bd. 111 (2000), S. 547-548)

Rezensiert von:
Gerhard Honekamp

In dieser überarbeiteten Fassung ihrer von Karin Hausen betreuten Dissertation aus dem Jahr 1996 beschreibt Dietlind HÜCHTKER den Wandel der Armenversorgung nicht als eine von der Armenpolitik vollzogene Abfolge von Reformen, sondern als ein im städtischen Alltag entstandenes neues Verhältnis zwischen Verwaltung, Bevölkerung und Armen. Bestand zu Beginn des untersuchten Zeitraums noch breites Einvernehmen über die Legitimität des Bettelns, das als Teil der städtischen Kultur akzeptiert wurde, wurde Armut und ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit im frühen 19. Jh. mehr und mehr als fremd und bedrohlich wahrgenommen. H. widerspricht der These der Armutsforschung, eine moralische Beurteilung von Armut habe seit der Aufklärung abgenommen. Am Berliner Beispiel weist sie nach, daß seit den 1830er Jahren ein Diskurs über die "Unsittlichkeit" der Armen festzustellen ist, der sich vor allem an den Weiblichkeitsbildern des städtischen Bürgertums festmacht. Dieser Diskurs entstand aus konkreten Konflikten um Armutsquartiere oder die Duldung von Prostitution und widerspiegelt über die eigentliche Armenpolitik hinaus Vorstellungen über Ordnung in der Stadt und das Selbstverständnis der Beteiligten.

Die Verf.in sucht nicht mittels sozialgeschichtlicher Argumentation nach neuen Erklärungszusammenhängen, sie erschließt Weiblichkeitsbilder nicht über Aussagen bezüglich der materiellen und sozialen Situation armer Frauen, sondern untersucht die Entstehung und die historische Bedeutung der Stereotypen von der "armen Mutter" oder der "liederlichen Weibsperson" im alltäglichen Denken und Handeln. Hierbei stützt sie sich u.a. auf die Analyse der Akten der Berliner Armen-Direction und des Berliner Polizei-Präsidiums, denen sie zeitgenössische Berlin- und Feuilletonliteratur gegenüberstellt, um die in der Verwaltung geäußerten Ansichten über Prostitution, Familienhäuser oder Armutsursachen zu konterkarieren. Besonders diese zum Teil ausführlich zitierten halbliterarische Passagen vermitteln ein lebendiges Bild der damaligen in der veröffentlichten Meinung vorherrschenden Anschauungen.

Die Untersuchung besteht aus vier Teilen. Der erste widmet sich den Kontinuitäten der Bitt- und Bettelkultur mit ihren alltäglichen Überlebensstrategien, während die Teile zwei und drei Veränderungsmomente im Alltag der Armenpolitik thematisieren: zum einen arbeitet H. als wesentliches Ziel der Verwaltungsreform heraus, zwischen Verwaltung und Bevölkerung hier und Armen dort eine neuartige Distanz herzustellen; zum anderen zeigt sie anhand der symptomatischen Themenfelder Familienhäuser und Prostitution, wie sich Veränderungen in der Alltagspraxis der Verwaltung durchsetzten und neue Denkweisen über Armut und Unterschichten eingeübt wurden. Der letzte Teil setzt diesen Wandel in Bezug zur Geschlechterpolitik und stellt anhand der Ansichten eines Armen-Commissions-Vorstehers das neue Denken in geordneten Geschlechterbeziehungen vor.

Die Verf.in versucht, eine Alltagsgeschichte aus dem Alltag heraus zu entwickeln und verzichtet auf einen im vorhinein definierten sozialökonomischen Rahmen. Sie will eine Alltagsgeschichte der Armut nicht als eine eindimensionale Entwicklungslinie vom Alten zum Neuen erzählen, sondern vielschichtigen Geschichten von Kontinuitäten und Veränderungen, von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern aller Beteiligten gleichzeitig Rechnung tragen. Sie versteht ihre Arbeit als einen möglichen Versuch, die Idee einer dezentristischen Geschichte zu realisieren, eingedenk der ihr innewohnenden immensen Probleme von Methodik sowie sprachlicher und formaler Umsetzung. So läßt sie auch in ihrem Schlußwort die Frage nach dem Gelingen ihres Ansatzes unbeantwortet und stellt fest: Die Idee einer Geschichtsschreibung, die ihre Vielstimmigkeit beibehält, bedarf sicherlich weiterer Experimente. (S. 221) - Ein ausführlicher Anmerkungsapparat und ein umfangreiches Literaturverzeichnis beschließen die innovative Studie.

Empfohlene Zitierweise:

Gerhard Honekamp: Rezension von: Dietlind Hüchtker: "Elende Mütter" und "liederliche Weibspersonen". Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770-1850), Münster: Westfälisches Dampfboot 1999, in: INFORM 1 (2000), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=384>

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