header

Martin Brecht (Hg.): Geschichte des Pietismus. Band l: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, XI + 584 S., 49 Abb., ISBN 3-525-55343-9, DM 148,00

Martin Brecht / Klaus Deppermann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Band 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, XIV + 826 S., 78 Abb., ISBN 3-525-55347-1, DM 212,00

Aus: Württembergisch Franken (Bd. 83 (1999), S. 408-410)

Rezensiert von:
Claus Müller

Es dürfte wohl kaum zu hoch gegriffen sein, wenn M. Brecht den Pietismus als "die bedeutendste Frömmigkeitsbewegung des Protestantismus nach der Reformation" (Bd. l, S. l) bezeichnet. Seine Bedeutung erhält der Pietismus nicht nur durch seine räumliche und zeitlich bis in die Gegenwart reichende Erstreckung, sondern vor allem auch durch seine viele Lebensbereiche mitgestaltende, geschichtsmächtige Prägekraft.

Nach der epochalen, aber in vielen Punkten überholten "Geschichte des Pietismus" von A. Ritschl (3 Bde., 1880-86) hat sich nun die "Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus" die Aufgabe gesetzt, eine dem neuesten Forschungsstand entsprechende Gesamtdarstellung der "Geschichte des Pietismus von seinen Anfängen bis zur Gegenwart und in seiner gesamten weltweiten Erstreckung" (Bd. l, S. V) vorzulegen. Soll die historische Forschung nicht in eine nur noch für den Detailexperten annähernd überschaubare Fülle einzelner Spezialarbeiten zerfallen, muß von Zeit zu Zeit eine Gesamtdarstellung eines historischen Phänomens gewagt werden. Da ein solch umfassendes Vorhaben kaum mehr von einem Einzelnen sachgerecht bewältigt werden kann, präsentiert sich die neue "Geschichte des Pietismus" als Gemeinschaftsproduktion verschiedener Pietimusexperten, die jeweils größere Komplexe bearbeiten.

In seinem Vorwort und der programmatischen Einleitung zum ersten Band läßt M. Brecht keinen Zweifel daran, daß sich der Herausgeberkreis sehr genau über die Probleme der Gesamtdarstellung eines so komplexen Phänomens wie des Pietismus bewußt ist. Formal werde keine lückenlose Darstellung intendiert. "Vielmehr sollen Akzente gesetzt werden, um das Wesentliche hervortreten zu lassen. Signifikante Entwicklungen und Fragestellungen sowie prägende Persönlichkeiten sollen in ihrer Bedeutung herausgearbeitet und kritisch gewürdigt werden." (Bd. l, S. 8). Dennoch bieten die vorliegenden ersten beiden Bände eine Fülle von Informationen - auch über weniger bekannte Personen, Gruppen und Erscheinungen. Diese ermöglichen es, den Pietismus mit seinen verschiedenen Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten trotz aller "Weite und Vielfalt" (Bd. l, S. 3) gleichwohl als "konsistentes und umschreibbares historisches Phänomen zu begreifen" (Bd. l, S. 4). Das Spezifikum des Pietismus liegt nach Brechts "vorläufiger Umschreibung" des Gegenstandes gerade in der besonderen Frömmigkeit dieser Bewegung. Sie sei insbesondere durch die Betonung der Erfahrbarkeit, Verifizierung und persönlichen Aneignung des Glaubens, der Auffassung von Kirche als praktizierender Gemeinschaft, der Hoffnung der Weltverbesserung durch Menschenverwandlung sowie einer konkreten Eschatologie charakterisiert (Bd. l, S. l). Gegenüber der frühen Konzentration der Forschung auf die theologischen "Lehren" solle in der vorliegenden Geschichte des Pietismus stärker die Frömmigkeit, die praktische Gestaltung des Lebens und der Gemeinschaft, berücksichtigt werden. Dadurch rücken in vielen der bisher erschienenen Beiträge Personen und deren Biographien in den Vordergrund - was nun wiederum manchmal zu Lasten der systematisch und theologischen Problemerörterung geht. Wahrscheinlich war es das Bewußtsein dieses Dilemmas, das die Herausgeber dazu bewogen hat, einen (vierten) Abschlußband anzukündigen, in dem "längsschnittartig Einzelthemen und Zusammenhänge behandelt" (Bd. l, S. 8) werden sollen.

Der erste Band beschäftigt sich mit den Anfängen und ersten Ausprägungen des Pietismus im 17. und frühen 18. Jhd. Als Vorläufer des deutschen Pietismus werden ausführlich der englische Puritanismus und die niederländische "Nadere Reformatie" (nähere bzw. weitere Reformation) dargestellt. Einen ersten Schwerpunkt bilden die Untersuchungen der Wurzeln des Pietismus in der Orthodoxie. Speziell Johann Arndt und seinen Büchern vom "Wahren Christentum" mit seiner Forderung nach "Umsetzung des evangelischen Glaubens ins Leben" (Bd. l, S. 138) wird eine entscheidende Rolle zugesprochen. Insbesondere dieses Kapitel über die oft als "tot" verschriene Orthodoxie stellt zugleich ein gelungenes Beispiel der stärkeren Berücksichtigung der gelebten Frömmigkeit dar. Diese wird unter anderem anhand der zeitgenössischen Lieddichtung beleuchtet. Im Mittelpunkt des ersten Bands stehen aber zweifelsohne Philipp Jakob Spener und August Hermann Franke. Speners Werdegang, sein Reformprogramm und dessen Auswirkungen werden ausführlich beschrieben. Als das spezifisch Neue der Spenerschen Reform, wie sie ihren programmatischen Ausdruck in seinen "Pia Desideria" (1675) finden, werden besonders die Collegia Pietatis als innervolkskirchliche Veranstaltungen sowie die eschatologische Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche und damit die Öffnung der Zukunft für die fromme Lebens- und Weltgestaltung hervorgehoben. Beim Hallischen Pietismus A. H. Frankes stehen neben dessen theologischen Eigenheiten (Betonung des Bekehrungserlebnisses, Heiligungsstreben, Ablehnung der Mitteldinge) sachgemäß die Entstehung und Organisation der "Glauchaschen Anstalten" mit all ihren Seitenzweigen im Mittelpunkt. Sehr schön wird auch aufgezeigt, wie sich der volkskirchliche Pietismus Spenerscher oder Hallischer Provenienz ständig in der Auseinandersetzung einerseits mit der orthodoxen Theologie, anderseits mit dem radikalen Pietismus behaupten mußte. Letzterem wird dem Ziel einer umfassenden Darstellung des Pietismus gemäß ebenso ein Kapitel gewidmet wie dem reformierten Pietismus mit seinem Hauptexponenten Th. Undereyck.

Im zweiten Band "Pietismus im 18. Jahrhundert" dominiert ein regionales Gliederungsprinzip. In einzelnen Kapiteln wird die Entwicklung des Pietismus nicht nur in den verschiedenen Regionen Deutschlands, sondern auch in Skandinavien, den Niederlanden, der Schweiz und dem angelsächsischen Raum (Methodismus) nachgezeichnet. Die z. T. detaillierten Ausführungen (z. B. auch zu G. Tersteegen) bieten nicht nur einen facettenreiches Bild der verschiedenen lokalen Ausprägungen des Pietismus, sondern stellen zugleich wichtige Beiträge zur jeweiligen Lokal- bzw. Landesgeschichte dar. Eine Sonderstellung nehmen die Anfangs- bzw. das Schlußkapitel des zweiten Bandes ein. Das erste Kapitel ist Zinzendorf und der Herrnhuter Gemeinde gewidmet. Ausführlich werden die innere und äußere Entwicklung der Brüdergemeinde beschrieben. Als die drei typischen Merkmale herrnhutischer Frömmigkeit nennt D. Meyer: "l. die zentrale Stellung der Erlösung Christi, 2. die Ablehnung aller natürlichen Gotteserkenntnis und Moral, 3. die Alleinwirksamkeit der Gnade und die 'Minutenbekehrung' des Sünders oder die selige Sünderschaft." (Bd. 2, S. 33). Das zweite Kapitel behandelt regionenübergreifend den radikalen Pietismus im 18. Jhd. Hier werden oft Fäden aus dem ersten Band aufgegriffen und weitergeführt (z. B. das Ehepaar Petersen, G. Arnold. J. Horch, J.K. Dippel). Obwohl es nicht in einem besonderen Kapitel eigens thematisiert wird, zeigen die Ausführungen dennoch an vielen Stellen, wie der (kirchliche) Pietismus im 18. Jhd. zugleich in eine neue Auseinandersetzung gerät, nämlich mit der aufkommenden Aufklärung. Das letzte Kapitel wiederum zeigt, wie der Pietismus am Ende des 18. Jhds. - schon im Kontext der Romantik - zur Erweckungsbewegung hinüberweist. Insbesondere werden die vernetzende Funktion der herrnhutischen Diasporaarbeit und der Christentumsgesellschaft analysiert; aber auch auf religiöse Einzelgestalten (Lavater, Oberlin, Jung-Stilling und M. Claudius) wird eingegangen, die, wenn auch nicht unbedingt selbst Pietisten, die weitere Entwicklung der Frömmigkeit beeinflußten.

Für die hiesige Landesgeschichte ist natürlich das Kapitel über den württembergischen Pietismus von besonderem Interesse. Die Bedingungen und der Verlauf der Einbindung des Pietismus in die lutherische Kirche (Pietistenreskript von 1743), die das kirchliche Leben in Württemberg so charakteristisch prägten, werden im einzelnen nachgezeichnet. Aber auch die "württembergischen Väter" mit ihrer eigenen Mischung aus Biblizismus und Spekulation, allen voran Bengel und Oetinger, werden eingehend gewürdigt.

Insgesamt bieten die beiden ersten Bände der "Geschichte des Pietismus" eine umfassende, detaillierte und dennoch die größeren Zusammenhänge nicht aus dem Blick verlierende, gut lesbare Darstellung des Pietismus im 17. und 18. Jhd. Ausführliche, jedem Kapitel vorangestellte Literaturhinweise belegen einerseits die Rezeption der neueren Diskussion und erleichtern andererseits das eigenständige Weiterarbeiten. Die zahlreichen Abbildungen veranschaulichen dabei manches oder manche(n) Beschriebene(n). Die drei ausführlichen Register (Personen-, Orts- und Sachregister) verdienen ein besonderes Lob. Sie erlauben ein sehr gezieltes Arbeiten und Nachschlagen auch und gerade bei Detailfragen. Angesichts der inhaltlichen Leistung, des Umfangs und der Ausstattung erweist sich auch der Preis als der Sache durchaus angemessen. Man darf auf die beiden noch ausstehenden Bände "Neunzehntes und zwanzigstes Jahrhundert" und "Motive und Wirkungen des Pietismus" sehr gespannt sein.

Empfohlene Zitierweise:

Claus Müller: Rezension von: Martin Brecht (Hg.): Geschichte des Pietismus. Band l: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, in: INFORM 2 (2001), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=400>

Claus Müller: Rezension von: Martin Brecht / Klaus Deppermann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Band 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, in: INFORM 2 (2001), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=400>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

footer