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Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760-1860 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 119), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 406 S., ISBN 3-525-35782-6, DM 84,00

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2000, S. 161-162

Rezensiert von:
Gudrun M. König

Diese geschichtswissenschaftliche Dissertation von Manuel Frey wurde im Rahmen des Bielefelder Graduiertenkollegs "Sozialgeschichte von Gruppen, Schichten, Klassen und Eliten" erarbeitet. Sie gliedert sich in drei große Teile: in medizinische und kirchliche Konzepte der Gefahren für Körper und Seele im 18. Jahrhundert, in Strukturen des Wandels und in Reinlichkeitsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft zwischen 1830 und 1860. Der hundert Jahre umfassende Untersuchungszeitraum setzt ein mit den Spezialdiskursen säkularisierter Reinlichkeitsvorstellungen und schließt mit den wissenschaftlich-technischen Problemlösungen städtischer Assanierung.

Der historische Begriff Reinlichkeit meint hier ein tätiges Verhalten, das zugleich normative Tugenden wie Ordnungsliebe und Fleiß, aber auch Vorstellungen von Schönheit und Gesundheit umfaßt. Reinlichkeit, so verstanden "als eine soziale Praxis und als normatives Deutungsmuster", markiert dabei soziale Differenzen wie auch die der Geschlechter und "entfaltet sich im zentralen Spannungsfeld Öffentlichkeit - Privatsphäre und eignet sich dazu, die Entwicklung von Individuen und Gesellschaften in ihrer Gesamtheit zu umschreiben" (12). Gegen den Strich gelesen werden uns hiermit auch kollektive Bedrohungsängste und kulturelle Vorstellungen der Verunreinigung vorgeführt. Ambitioniertes Anliegen von Frey ist es, ein Modell der kulturellen Modernisierung im historischen Kontext zu entwerfen. Geklärt werden sollen unter anderem folgende Fragen: Wann hat sich Reinlichkeit als Wert in modernen westlichen Gesellschaften entwickelt; wer hatte Interesse an ihrer Durchsetzung; welchen Einfluß übte die Norm auf Körper und Kleidung aus und welche sozial unterschiedlichen Bedeutungen können ausgemacht werden?

Antworten findet Frey, indem er die Reinlichkeitsnormen und -praktiken in archivalischen Quellen zu Badeanstalten und zur Straßenreinlichkeit sowie in Autobiographien, Haushaltsratgebern, Reiseberichten und Manierenbüchern herausarbeitet. Der geographische Schwerpunkt liegt auf Süddeutschland; nicht zuletzt weil bayerische Physikatsberichte um 1860 die zentrale Quellengruppe des dritten Teils ausmachen.

Die Phase der Etablierung normativer Reinlichkeit interpretiert Frey in erster Linie als Vergesellschaftungsprozeß. Er kann zeigen, wie die spezifisch "bürgerlich" argumentierenden Berufsgruppen der Ärzte, Pädagogen und Theologen Reinlichkeit aus dem religiösen Bedeutungsfeld lösen und in aufgeklärter Perspektive umdeuten. Insbesondere die Neubewertung des Wassers als Reinigungsmittel und die naturwissenschaftliche Kenntnis der Zusammensetzung der Luft führten nach 1760 zu deren Einbindung in diätetische und reformpädagogische Programme. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeugen dann schon neue oder verbesserte Bade- und Wascheinrichtungen von der kulturellen Umwälzung.

Frey begnügt sich nicht mit der Schilderung der Entstehung und Durchsetzung des bürgerlichen Kulturmusters Reinlichkeit, sondern er versteht darunter mehr als Gesundheit und Hygiene, nämlich die "planmäßige Entwicklung eines neuen sozialen Typus des selbstbewußten, tätigen Individuums" (327). Reinlichkeit figuriert als Ausdruck einer aufklärerischen neuen Auffassung vom Körper samt seiner Leistungsfähigkeit. Reinlichkeit steckt ein Raster der Orientierung im sozialen Raum ab, das erlaubt, oben und unten, faul und fleißig, gesund und krank zu lokalisieren. Frey entwickelt dabei die These, daß die hygienische Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur die industrielle Revolution begleitet, sondern selbst Ausdruck eines längerfristigen Prozesses der bürgerlichen Reinlichkeitsnormierung ist.

Die kulturelle Deutungselite der Aufklärung adaptierte und integrierte unterschiedliche Verhaltensweisen sozialer Gruppen des Ancien régime in die bürgerliche Moral der Reinlichkeit: Vom repräsentativen Reinheitsbegriff des Adels den distanzierenden Blick, von ländlichen wie städtischen Unterschichten den unbefangenen Umgang mit Wasser und vom alten Stadtbürgertum die Verbindung von Reinlichkeit und Ordnung zur Stabilisierung des Sozialsystems.

Frey kann zeigen, wie sich anhand des Kulturmusters Reinlichkeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts individuelle Aufstiegshoffnungen und humanitäre Weltverbesserungsideen verbanden mit den Anfängen eines nationalen Selbstbewußtseins, mit der Neubestimmung der Geschlechterrollen wie mit der Lehre vom Schönen als Einheit des inneren und äußeren Menschen. Dazu kam die Abwertung des Geruchsinns zugunsten des Sehsinns und die Verknüpfung von Scham- und Ekelgefühlen mit Schmutz.

Werden mit Norbert Elias Fragen der Selbstdisziplinierung behandelt, so wird mit Michel Foucault die Bedeutung von Techniken der Fremdkontrolle im Prozeß des sozialen Wandels ausgelotet, um herauszufiltern, was allen bürgerlichen Gruppen gemeinsam war. Dabei legt Frey besonderes Gewicht auf die Feststellung, daß Mechanismen der Selbstkontrolle eng mit denen der Fremdkontrolle verknüpft waren. Überzeugend kann Frey nachweisen, daß um 1800 Reinlichkeit zum äußeren Zeichen des Bürgers geworden ist, womit die Phase der medizinischen und pädagogischen Programmbildung weithin abgeschlossen ist.

Differenzierte Definitionen folgen dem Bielefelder Programm der Bürgertumsforschung, etwa wenn bürgerliche Kultur als Ensemble von gemeinsamen Werten, Normen und Verhaltensstandards vorgestellt wird. In diesem Sinne mag es nicht recht einleuchten, das Bürgertum um 1800 als eine heterogene Mischung von "Verbänden" (15) zu bezeichnen. Wenn vielleicht auch gemeint ist, daß das durchmischte Bürgertum kulturell verbunden ist durch unterschiedliche Faktoren wie etwa regionale oder soziale Herkunft, Religion und Bildung, wirtschaftliche Bedeutung wie rechtlichem Status, so machen soziokulturelle Bindungen doch noch längst keine Verbände aus ihm.

Ähnlich irritierend wie das Sprechen über das Bürgertum als Verband, an anderen Stellen freilich einleuchtend umgesetzt in die "verschiedenen Formationen des Bürgertums", ist die Einkleidung von Reinlichkeit in Georg Simmels "Zentralbegriff". Simmel verstand die Zentralbegriffe als "heimliche Könige" einer Geistesepoche, doch gerade das 19. Jahrhundert hat eben keinen gleich umfassenden Leitgedanken wie frühere Jahrhunderte mehr gekannt. Freys soziologisch-kulturwissenschaftliche Garnitur tut der historiographischen Analyse dennoch keinen großen Abbruch, scheint sie doch Ausdruck einer theoriebemühten Konzeptionalisierung der Arbeit. Warum sich aber eine "Semantik der sozialen Ungleichheit" gebildet aus Normen, Wertvorstellungen, Körperhaltungen und Gesten um "Zentralbegriffe herum entwickelt" (25), die freilich nicht nur als Analysebesteck gewichtet wird, sondern zudem "Orientierung für die einzelnen Akteure" ermöglichen soll, bleibt im Begriffsdunkel verborgen, zumal der zu Rate gezogene Simmel explizit davon gesprochen hatte, erst der "späte Beobachter" könne die Bedeutung der Zentralbegriffe erkennen. Bei aller historiographischen Akkuratesse verdichtet sich bei genauer Lektüre der Eindruck, daß Freys Anspruch, Sozial- und Kulturgeschichte wie Struktur- und Erfahrungsgeschichte, Diskurs und soziale Praxis zu verbinden, nur bedingt eingelöst wurde. Wohl vereinigt seine Arbeit die angesprochenen Ebenen in der Beschreibung, doch manchmal eher reihend als analytisch. Dies zeigt sich nicht nur im rahmenden Korsett kultursoziologischer Terminologie, sondern wird auch einsichtig beim Verhandeln der sachkulturellen Themen: Körper, Kleidung, Wohnung. Zwar gelingt es Frey mit großer Geste, Taschentuch und Unterhose, Spucknapf und Perücke in seine Kulturgeschichte der Reinlichkeit einzubinden, hin und wieder jedoch werden vereinfachend Einzelbelege addiert, ohne an diesen Punkten die jeweils breite Sekundärliteratur systematisch zu gewichten und die Quellenkritik detailliert zu reflektieren.

Divergente historische Erscheinungen unter einen Zentralbegriff zu bündeln, ist gleichwohl bestechend, ob dies freilich unter der Notion Reinlichkeit Simmel gerecht wird, bleibt fraglich, zumal die Chance, wie es bei Simmel heißt, begriffliche Abwandlungen, Verhüllungen und Gegnerschaften auszumachen, zwar gesehen, aber nicht voll ausgeschöpft wurde.

Empfohlene Zitierweise:

Gudrun M. König: Rezension von: Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760-1860, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, in: INFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=422>

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