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Andreas Schmidt: "Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze Erde weint...". Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in Deutschland 1755 bis 1855, Münster: Waxmann 1999, 369 S., ISBN 3-89325-569-9, DM 49,90

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2000, S. 196-197

Rezensiert von:
Ursula Brunold-Bigler

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine Habilitationsschrift für das Fach Volkskunde, die der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i.Br. vorgelegt wurde. Für seine Studie definiert der Autor den Begriff Naturkatastrophe wie folgt: a) Ein Naturereignis, das in von Menschen bewohnten und damit auch bewerteten Räumen stattfindet; b) überraschend die sozial und kulturell eingeschliffenen Lebensentwürfe der Menschen zerstört oder nachhaltig ins Wanken bringt (ökonomische, soziale und kulturelle Destabilisierung); c) die körperliche Existenz der betroffenen Menschen bedroht oder zerstört; d) im Verlauf keine offensichtliche Möglichkeit des Schutzes davor erschließt.

In enger Anlehnung an Helge Gerndts These zur Atomkatastrophe von Tschernobyl, wonach die überwiegend kulturell vermittelten Sekundärerfahrungen den individuellen Erfahrungskomplex bestimmten, versucht der Autor für den Zeitraum von 100 Jahren die mediale Vermittlung, also die Fremdwahrnehmung destruktiver Naturphänomene wie Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Dürren, Stürme, Erdbewegungen und Erdbeben zu erhellen. Als Quellen dienen populäre Lesestoffe wie Schulbücher, Robinsonaden und Reisebeschreibungen für Kinder, die drei Kalendertitel Rheinländischer Hausfreund (überregional bedeutsam und literarisch ambitioniert), der Lahrer hinkende Bote (stark verbreiteter regionaler Kalender), der Raststatter Hinkende Both (eher regional begrenzt) sowie einzelne Jahrgänge verschiedener Titel. An Zeitschriften wurden das Pfennig-Magazin, die erste deutsche Illustrierte, und das Ausland, eine Tageszeitung, untersucht, welche sich als einzige der untersuchten Quellen mit ihren von Wissenschaftlern verfaßten Beiträgen an ein gebildetes Lesepublikum wandte. Bei der dritten analysierten Textsorte handelt es sich um gedruckte Bänkellieder, vornehmlich aus Beständen des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg i. Br.

Nach der ausführlichen Präsentation zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Erklärungen sowie philosophischer und theologischer Interpretationen von Naturkatastrophen analysiert Schmidt die je nach Medium unterschiedliche Art und Weise der Vermittlung. Die hohe Belegdichte an Katastrophendarstellungen in Kalendern, Zeitschriften und Zeitungen indiziert die große gesellschaftliche Relevanz der Natur als gewaltvolle destruktive Kraft. Die zahlreichen (illustrierten) Katastrophenberichte - das Erdbeben von Lissabon vom l. November 1755 bildet den Auftakt - lassen sich als Reaktion der Aufklärung deuten: das bis anhin Unberechenbare und deshalb Angsterregende sollte dank wissenschaftlichem Fortschritt entmythisiert und somit beherrscht werden. Völlig anders geartete Konstrukte und Stilisierungen von Wirklichkeit stellen die Bänkellieder dar, deren Verfasser Erdbeben, Sturmfluten und Überschwemmungen als Vorzeichen der Apokalypse interpretierten und somit die traditionale religiöse Disziplinierung aufrechterhielten und festigten. Schmidts Feststellung, bei der Analogie Erdbeben - Apokalypse handle es sich "also um eine fremdproduzierte, nicht an Erfahrung geknüpfte Codierung dieser Naturerscheinung" (267) ist sicherlich zuzustimmen. In der von ihm zitierten Bibelstelle (Mt 24, 7-8) ist indessen nicht nur von Erdbeben, sondern zusätzlich von Hungersnöten die Rede. Hungerkrisen gehörten mit zu den "markanten, gesellschaftlich stark rezipierten Ereignissen" (3), denn sie traten europaweit, also auch in Deutschland, periodisch groß- und kleinräumig auf und waren durch Naturgewalten wie Dürre, Überschwemmungen, sich wiederholende lange Winter und naßkalte Sommer bedingt. Der Hunger ließ tiefe Einschnitte in der Alltagswirklichkeit der Betroffenen zurück. Unterschiedliche Textsorten überliefern Primärerfahrungen, aber auch eine traditionsgesteuerte Motivik. Aus Schmidts Ausführungen wird allerdings nicht ersichtlich, ob in den von ihm untersuchten Quellen die sozial relevante Hungerthematik nicht zur Sprache kommt (dies hätte freilich problematisiert werden müssen) oder ob es dem Autor diesbezüglich an Problembewußtsein gefehlt hat.

Nach Schmidts Auffassung waren Naturkatastrophen in Deutschland eher selten (267); doch weshalb entwickelte sich überhaupt eine volkspädagogische Anleitungsliteratur für den Katastrophenfall, wenn für die lesenden Rezipienten gar keine realen Gefahren bestanden? Ein Blick auf die interpretierten Quellen ergibt jedoch, daß sich auch in Deutschland die Bevölkerung (soziale und geographische Unterschiede gilt es freilich zu berücksichtigen) als "Gefangene der Natur" (Fernand Braudel) betrachtet hat. Für eine Habilitationsschrift wäre es wünschenswert gewesen, den Primärerfahrungen von Betroffenen ebenfalls nachzugehen, um deren Ängste, Nöte und Hilflosigkeiten den ideologieverbrämten Trockenübungen der damaligen schreibenden Bildungsbürger entgegenzustellen. Womit die Studie an Lebens- und Menschennähe gewonnen hätte.

Empfohlene Zitierweise:

Ursula Brunold-Bigler: Rezension von: Andreas Schmidt: "Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze Erde weint...". Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in Deutschland 1755 bis 1855, Münster: Waxmann 1999, in: INFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=426>

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