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Wolfgang Seidenspinner: Mythos Gegengesellschaft. Erkundungen in der Subkultur der Jauner (= Internationale Hochschulschriften; Bd. 279), Münster: Waxmann 1998, 408 S., ISBN 3-89325-640-7, DM 49,90

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2000, S. 151-152

Rezensiert von:
Walter Hartinger

Die Volkskunde tat sich schwer mit dieser Sozialschicht der Bettler, Falschspieler, fahrenden Musikanten, ambulanten Gewerbetreibenden, Zigeuner, Kesselflicker, Sauschneider, Scherenschleifer, Botengänger, der "Jauner" eben oder "Jenischen". Hätte nicht Jakob Grimm ein frühes Interesse zumindest an deren Sprache, dem "Rotwelsch" angemeldet, wären sie vielleicht völlig im toten Blickwinkel ethnographischer Beschreibungen liegengeblieben. Als einer der wenigen gegenwärtigen Fachvertreter hat Wolfgang Seidenspinner dieser Thematik eine erkleckliche Anzahl von Detail-Studien gewidmet; in der vorliegenden Publikation faßt er deren Quintessenz zusammen.

Die Arbeit greift weit aus; sie setzt ein mit der allmählichen Ausgrenzung der mobilen Bevölkerung im Mittelalter vor dem Hintergrund von Städtebildung und Territorialisierung, beides Vorgänge, die mit ihrem Leistungsprinzip bzw. mit der Norm obrigkeitlicher Überwachbarkeit zunehmend auf Konfrontation mit einer Bevölkerungsschicht gingen, die auf Almosen vertraute, in Notsituationen vor kleineren Eigentumsdelikten nicht zurückscheute, keine Steuern zahlte, sich kirchlicher und staatlicher Überwachung aufgrund der Unseßhaftigkeit entzog und zunehmend weniger in eine Welt der bürgerlichen und bäuerlichen Seßhaftigkeit und Lebensordnung paßte. Die absehbare Folge waren Marginalisierung, soziale Diskriminierung mit dem Verdikt der Unehrlichkeit und zunehmend generelle Kriminalisierung. Zwar versuchten einige dieser Gruppen wie die Musikanten und die Kesselschmiede (die Scharfrichter hätten noch angeführt werden können) durch zunftähnliche Zusammenschlüsse und/oder Unterstellung unter hochherrschaftliche Patrone Organisationsmuster der seßhaften Mehrheitsbevölkerung nachzuahmen, doch blieben diese Integrationsversuche weitgehend folgenlos, es sei denn, Teile dieser Gruppen sind tatsächlich seßhaft geworden wie die Kaltschmiede und Stadtmusikanten.

Seidenspinner schildert die zunehmende Klüftung zwischen den Jaunern und den Instanzen der Mehrheitsgesellschaft, die ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert erreicht und schließlich dazu führt, daß in dem Umgang mit diesen Personen elementare Prinzipien der bis dorthin entwickelten rechtsstaatlichen Normen ignoriert wurden: Anwendung der Folter ohne hinreichenden Verdacht allein wegen des schlechten Leumunds, Abstrafung ohne nachgewiesene Delikte, Durchführung von summarischen Prozessen. Die offensichtliche Hypertrophisierung der gesellschaftlichen Angst vor den Jaunern in jenem Jahrhundert ist uns heute schwer verständlich, zumal Seidenspinner glaubhaft machen kann, daß deren prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung - trotz damals massiver Bevölkerungsvermehrung und unübersehbarer Anzeichen von vorindustriellem Proletariat - kaum mehr als 10% betragen hat. Die in Gang gebrachten obrigkeitlichen Maßnahmen zur Beseitigung des "Übels" jedenfalls erwiesen sich allesamt als unzulänglich: Errichtung von Zigeuner- und Bettlerstöcken an den Landesgrenzen, Bettlerstreifen und -fuhren, Kopfprämien und Prozesse, Ansiedlung in neuen Kolonistendörfern.

So kommt es im Verlauf des 18. Jahrhunderts, hineinreichend noch in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, zur Bildung einer Anzahl von Banden, die sich durch eine erhebliche kriminelle Energie auszeichnen. Sie rekrutieren sich wohl nicht ausschließlich, doch zu einem erheblichen Anteil auch aus den Jaunern. Gerade an diesen Banden entfalten sich dann Deutungsmuster der Mehrheitsgesellschaft (Dämonisierung als Teufelsbündner bis zur Romantisierung als Sozialbanditen), die für die Wahrnehmung des Phänomens bis zur Gegenwart von Bedeutung bleiben. Der Autor demonstriert dies am Beispiel des Hölzerlips, der im Zuge seines Prozesses zu einem "Räuberkönig" hochstilisiert wurde.

Den eigentlichen Schwerpunkt der Arbeit sehe ich in der Auseinandersetzung mit dem Deutungskonstrukt hinsichtlich der Kultur dieser Ausgegrenzten als einer "Subkultur" oder sogar "Gegenkultur". Dies bewegt den Autor von Anfang an; kritische Einwürfe streut er immer wieder ein, die eigentliche Diskussion führt er in zwei großen Kapiteln (151-312). Er plädiert dabei für die Verwendung von Begriff und Konzept "Stilkultur" statt "Subkultur" und diskutiert dieses anhand der Kriterien von "Image", "Haltung" und "Jargon", wobei er insgesamt überzeugend die Elemente einer "jaunerischen Kultur" (= Subkultur) herausarbeiten kann. Ob in diesem Zusammenhang das große Kapitel über die "gewöhnliche Tracht der Jauner" (151-238) gerechtfertigt ist, möchte ich angesichts des Ergebnisses (sie trugen - cum grano salis - die lokale oder regionale Alltagskleidung) bezweifeln. Umso überzeugender gelingt die gedankliche Auseinandersetzung mit der Fiktion einer "jaunerischen Gegenkultur" mit der Zentralgestalt des "Sozialbanditen", wie sie zuletzt Carsten Küther vertreten hat. In einer diachron ab- und aufsteigenden Literaturkritik kann Seidenspinner nachweisen, daß eine Reihe moderner Kulturwissenschaftler (zentral Eric Hobsbawn) einem literarischen Stereotyp aufgesessen ist, das sich bereits im Mittelalter im Umfeld dichterischer Gesellschaftskritik verfestigt hat. In diesem Nachweis sehe ich die eigentliche produktive Leistung dieser Monographie.

Das Kapitel über die "Hundsfresser von Lützenhardt" (Schwarzwalddorf, in welchem im 18. Jahrhunden einige Jauner angesiedelt wurden) hätte es nach meinem Dafürhalten nicht gebraucht, wenngleich es interessant war, die Zählebigkeit und unterschwellige Virulenz von Vorurteilen bis in unsere Zeit herein zu beobachten.

Es bleibt aufs Ganze eine respektable Leistung zu resümieren, im ersten Drittel vielleicht zu sehr überfrachtet mit Literaturhinweisen, gelegentlich in der Proportionierung der Einzelteile überlastig, aber in seinem Ergebnis überzeugend und sicherlich eine entscheidende Basis für die dringend notwendige weitere Beschäftigung mit Vorgängen der Marginalisierung und Kriminalisierung von Minderheiten.

Empfohlene Zitierweise:

Walter Hartinger: Rezension von: Wolfgang Seidenspinner: Mythos Gegengesellschaft. Erkundungen in der Subkultur der Jauner, Münster: Waxmann 1998, in: INFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=427>

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