Rolf Peter Sieferle / Helga Breuninger (Hg.): Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt/M.: Campus 1998, 295 S., ISBN 3-593-35952-9, DM 48,00
Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2000, S. 152-153
Rezensiert von:
Olaf Bockhorn
Rolf Peter Sieferle, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim, und Helga Breuninger, Leiterin der Stuttgarter Breuninger Stiftung GmbH, legen mit diesem Buch die Ergebnisse zweier von der genannten Stiftung in den Jahren 1996 und 1997 veranstalteten Forschungskonferenzen vor. Nachdem sich zwei vorangegangene Tagungen dem Thema "Trauma- und Gewalterfahrungen" aus psychoanalytischer Perspektive genähert hatten, war das Ziel der folgenden Symposien, den Auseinandersetzungen mit Gewalt und seinen kulturellen Formen ein interdisziplinär-historisches Fundament zu bieten.
Das Spektrum der Beiträge in diesem Sammelband reicht demgemäß zeitlich von den altorientalischen Hochkulturen über die römische Antike und das Mittelalter bis in die Gegenwart; geographisch werden Gewaltphänomene in europäischen und außereuropäischen Kulturen behandelt. In seiner die Aktualität des Themas hervorhebenden und begründenden Einleitung versucht R. P. Sieferle, Ordnungsmuster und Strukturen von Gewalt in Geschichte und Gegenwart herauszuarbeiten, kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, Stigmatisierung, mehr jedoch Rechtfertigung, Legitimierung und Symbolisierung von Gewaltakten, speziell Kriegen, am sozio-kulturellen Umfeld festzumachen, die Dialektik von Gewalt herauszustellen: Angesichts der jüngsten Ereignisse in Südosteuropa besitzt seine gegen Ende getroffene Feststellung, daß im Sinne einer neuen Gerechtigkeitsordnung zur Gewalteindämmung Gewalt gegen Gewalt gesetzt wird, durchaus ihre (wenn auch nicht in allen Regionen unserer Erde praktizierte) Gültigkeit. Richtig ist auch, daß jenseits dieser "disziplinierenden" immer noch - statt des Gartens Eden, "wo Wölfe Gras fressen" - die offene physische Gewalt liegt. Gewisse Zweifel sind allerdings darüber angebracht, ob erstere wirklich "als kulturell erträgliche Form" bezeichnet werden kann (28). Diese "sanften Restformen der Disziplinierung" mögen in der ersten Welt zwar der "Erträglichkeit" dienen, sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß insgesamt nicht Dr. Jekyll, sondern immer noch Mr. Hyde das Sagen hat, mit Billigung und tatkräftiger Unterstützung derer, die uns vermitteln wollen, daß es sich um zwei Personen handelt. Daß diese "Vermittlung" offenbar immer schon funktioniert hat, zeigen die meisten folgenden Aufsätze.
Marlies Heinz beschäftigt sich mit "Formen und Funktionen staatlicher Gewalt in Mesopotamien vom 4.-l. Jahrtausend v. Chr.", wobei sie sich primär der Analyse archäologischer Artefakte für ihre durch reiches Bildmaterial veranschaulichte Aussage bedient, daß die Darstellung von Gewalt in einer hierarchisch und autoritär strukturierten Gesellschaft "als wertsetzendes und wertstabilisierendes Moment [wirkt]" und daher Gewalt "in jedem Fall als normgerechte und positive Konfliktlösung [erscheint]" (50). Zu vergleichbaren Schlüssen kommt Paul Zanker, der Bilder der Gewalt in der römischen Kunst auswertet: vor allem von Gewalt in der Arena und gegen die "Barbaren" - Bilder, denen ein hoher Grad der Identifizierung der Betrachter mit den dargestellten Grausamkeiten und die Verherrlichung militärischer Tugenden, sowohl der römischen Truppen als auch der Gladiatoren, zu eigen ist. Die Reaktion von Teilen der Bevölkerung auf die "Wehrmachtsausstellung" läßt die Vermutung zu, daß solche Einstellungen auch heute noch bestehen.
"Staatliche Gewalt und 'göttliches Gesetz' im Vorderen Orient des Mittelalters" behandelt Gerhard Hoffmann, der nachweist, wie die zunehmend militärische Prägung staatlicher Gewalt den religiös-geistigen Idealen der (früh-)mittelalterlichen islamischen Gelehrsamkeit zuwiderläuft. Nicht auf staatliche, sondern auf funktionale Aspekte von Gewalt bzw. ihrer Darstellung in Erzählungen über Anthropophagie geht hingegen Thomas 0. Höllmann ein. Er zeigt anhand von (zum Teil rezenten) Beispielen aus Afrika und China, daß die oftmals brutalen Schilderungen des Kannibalismus - ungeachtet realer Hintergründe - primär der Abschreckung dien(t)en und als "Symbolik des Terrors" charakterisiert werden können.
Japan steht im Zentrum der beiden Beiträge von Nelly und Wolfram Neumann. Erstere legt für die Frühgeschichte Japans dar, wie bis zum 8. Jahrhunden offene Gewalt und Willkür zurücktreten und wie Gewalt im Rahmen der vorgeschriebenen Gesetze staatlich institutionalisiert, aber noch keineswegs ritualisiert wurde. Der "Weg zum Samurai", der "Weg des Kriegers", der im zweiten Aufsatz nachvollzogen wird, ist der Pfad staatlich sanktionierter Gewalt. Die martialische Aufmachung der Krieger dient als Drohgebärde gegen Abweichungen von den gesellschaftlichen Normen; erst wenn sie nicht fruchtet, wird Gewalt angewendet. Der Samurai ist Krieger, Vasall eines Herren, Edelmann; die Gewalt, die er ausübt, kann er, wenn geboten, gegen sich selbst richten. Tötung bzw. Selbstexekution wird dann in vormoderner Zeit und pazifizierter Gesellschaft, parallel zum Niedergang der Samurai, zum furchtbaren Ritual.
Rituale spielen als "Regeln der Gewaltanwendung im Mittelalter" (so der von Gerd Althoff gewählte Beitragstitel) ebenfalls eine bedeutende Rolle. Ziel der Regeln war, die Gewaltanwendung einzuschränken bzw. zu vermeiden; diesem Ziel fühlten sich sowohl das Rittertum als auch die Gottesfriedens- und Landfriedensbewegung verpflichtet. Von den Historikern bislang weniger beachtet und daher vom Autor in den Mittelpunkt gestellt ist die klassische, aber keineswegs regellose Form mittelalterlicher Gewaltanwendung: die Fehde, deren Regelwerk nirgendwo schriftlich fixiert und vom Verfasser aus vielfältigen Beschreibungen von Fehdehandlungen extrapoliert wurde. Auch hier stand die Gewaltvermeidung (durch die Tätigkeit von Vermittlern, durch das Einlenken der gegnerischen Partei fördernde Drohgebärden, durch Vermeiden der Brüskierung des Nachgebenden) im Vordergrund, was der Autor durch anschauliche Beispiele belegt.
Die Zivilisalionstheorie von Norbert Elias wird anschließend von Martin Dinges aus der Perspektive der Frühneuzeitgeschichte (1500-1800) und der Historischen Anthropologie als zu einseitig kritisiert. Er zeigt, daß Gewalt "sehr wohl mit Seßhaftigkeit, fester Berufstätigkeit, auch mit hohen Schichtpositionen vereinbar ist. [...] Gewalt ist also nicht das 'Andere, Fremde', wozu sie die Zivilisationstheoretiker gerne stilisieren. Vielmehr entsteht sie an den Orten der Arbeit und des Vergnügens und in den Familien." (177) Sie wird, so die herangezogenen Beispiele, ritualisiert ausgeübt und geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich eingesetzt. Auch wirkt, so der Autor, frühneuzeitliches Staatshandeln keineswegs durchgehend gewaltmindernd; das Gewaltmonopol des Staates vermag vielmehr die Ausübung von Gewalt zu fördern (etwa im Rahmen der Justiz). Man wird der abschließenden Forderung auch aus der Sicht der Volkskunde nur zustimmen können: "Nicht der Mythos der Entfernung ganzer Zivilisationen von der Gewalt als dem Anderen und dem Fremden ist zu untersuchen, sondern der historisch recht veränderliche Umgang von Gesellschaften mit Gewalt." (190)
Um "kriegerische Gewaltakteure in Lateinamerika im frühen 19. Jahrhundert" kreist der Beitrag von Michael Riekenberg, um die von der Schwächung staatlicher Strukturen profitierenden "Caudillos", deren "Gewaltkultur" und "Gewaltpraxis" jedoch "mit den im gesellschaftlichen Umfeld gebräuchlichen, üblichen Mustern der Gewaltanwendung und Gewaltbewertung verknüpft blieben" (212). Eine solche "Sozialisation durch Gewalt" prägte auch die afrikaans-nationalistische Machtelite in Südafrika im 20. Jahrhundert; das ermöglichte den dortigen Führungseliten durch Jahrzehnte, so der Schlußsatz des Aufsatzes von Christoph Marx, "den gewalttätigen Charakter ihrer Herrschaft moralisch legitimieren zu können" (236).
Indien und Indonesien stehen - fast - am Ende des hier anzuzeigenden Bandes: "Gandhis Begegnungen mit Gewalt" listet Dietmar Rothermund auf; Lutz Ellrich behandelt "Kulturell codierte Gewalt"; sein wissenschaftlicher Ansatz wird im Untertitel erkennbar: "Die indonesischen Massaker von 1965/66 im Lichte der Kulturtheorie von Clifford Geertz". Diese setzt den beiden anderen Erklärungsmustern der Massaker (l. kultur-internes Phänomen, das die irrationalen Züge eines Volkes freilegt oder die Rolle religiöser und moralischer Tabus belegt; 2. Folge kultur-interner und -externer Faktoren mit unterschiedlicher Gewichtung unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Militärs) die These entgegen, daß, sehr verkürzt, "Gewaltexzesse noch in eine 'tiefenstrukturelle' soziale Rationalität eingebettet sein können" (258). "Zentraler Gegenstand" der Geertz'schen Theorie kulturell codierter Gewalt "ist - wie bereits der Ausdruck 'kulturell' vermuten läßt, nicht die von staatlichen Apparaten kontrollierte und ausgeübte Gewalt, sondern das generelle Phänomen der 'eruption of great domestic violence'" (268). Letztmals L. Ellrich: "Zu den provozierendsten Aspekten des von Geertz entworfenen Modells gehört ohne Zweifel der Umstand, daß es keinen kategorialen Unterschied gibt zwischen militärisch konzentrierten und zivilen Gewaltpotentialen, über die Gesellschaften im Konfliktfall verfügen. Das eigentliche Subjekt der Gewalt ist (im Blick auf die soziale Tiefenstruktur) stets die ganze Gesellschaft..." (277). Die Frage, ob sich hinter diesem theoretischen Ansatz nicht auch ein Quentchen Biologismus verbirgt, sei hier immerhin gestellt.
Alf Lüdtke greift in seinen abschließenden "Thesen der Wiederholbarkeit" die "'Normalität und Massenhaftigkeit von Tötungsgewalt im 20. Jahrhundert" auf und stellt unter anderem fest, "daß abstrakte Gewaltdiskurse ebenso wie abstrahierende Methoden [...] auch bei Historikerinnen und Historikern Ängste bannen sollen. [...] Das Überwechseln vom physischen 'Ereignis' zur über-individuellen 'Struktur', diese Flucht vom Detail zum Ganzen, verspricht auch die Wiedergewinnung von 'Sinn' angesichts der Sinnlosigkeit, die an der (Todes-)Grenze der körperlichen Existenz lauert." Dieser Abstraktheit stellt er die Notwendigkeit der Beobachtung und Beschreibung von Gewalt durch Dritte gegenüber, denn "die genaue Analyse jener Praktiken, die Gewalt auslösen und zufügen, ist die einzige Chance, um die Motive der GewalttäterInnen einzukreisen" (283). Gefordert werden detailgetreue Schilderungen, ein Blickwechsel "von den (Handlungs-)Bedingungen und Strukturen zu den tatsächlichen Praxen", die Beachtung der "Alltäglichkeit von physischer Gewalt" - Aufgaben für eine alltagshistorische Forschung, somit auch für die Volkskunde, die sich bereits mehrfach mit Gewalt, "Gewalt in der Kultur" auseinandergesetzt hat und daher auch diesem Band trotz oder gerade wegen seiner zeitlichen und räumlichen Breite entsprechendes Interesse entgegen bringen müßte.
Siehe auch die Rezension von Ralf-Peter Fuchs in PERFORM 1 (2000), Nr. 1.
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Bockhorn: Rezension von: Rolf Peter Sieferle / Helga Breuninger (Hg.): Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt/M.: Campus 1998, in: INFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=428>
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