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Anne Conrad / Arno Herzig / Franklin Kopitzsch (Hg.): Das Volk im Visier der AufklĂ€rung. Studien zur Popularisierung der AufklĂ€rung im spĂ€ten 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises fĂŒr Regionalgeschichte; Bd. 1), MĂŒnster: LIT 1998, 266 S., ISBN 3-8258-3100-0, DM 38,80

Aus: WĂŒrttembergisch Franken (Bd. 84 (2000), S. 373 f.)

Rezensiert von:
Peter Ehrmann

Nicht erst seit Peter Burkes epochalem "Popular Culture in Early Modern Europe" (1978) stellt sich in der Forschung die Frage nach dem VerhÀltnis von "Volk" und "Elite", wobei der deutsche Begriff "Volkskultur" mit dem angelsÀchsischen "Popular Culture" nicht völlig deckungsgleich ist. ZunÀchst von Burke noch relativ scharf gehandhabt, verschwimmen beider Grenzen bei nÀherem Hinsehen in Grauzonen und GrauflÀchen. Dennoch stellt der vorliegende Band, darin Burkes Werk Àhnlich, die Frage nach dem VerhÀltnis von Elitenkultur (Kultur der AufklÀrung) und Volkskultur (= der Kultur der Nichteliten). Die Leitfrage ist folglich: Was kam "unten" im Volk von den fortschrittlichen Thesen der "Elite" als "AufklÀrung" an?

Die aufgeklĂ€rten Eliten des 18. Jahrhunderts waren zwar vom Wert ihrer AufklĂ€rung ĂŒberzeugt, aber unsicher darĂŒber, wie weit das Volk aufgeklĂ€rt werden sollte und konnte, ohne unglĂŒcklich gemacht zu werden. Schematisch lassen sich drei Phasen aufgeklĂ€rter ReformtĂ€tigkeit unterscheiden: Die wissenschaftlich-literarische; die literarisch-publizistische; und die breite Reformbewegung, die etwa hygienisch-medizinisch, agrarökonomisch und auf anderen Gebieten wirken wollte. Die AufsĂ€tze im vorliegenden Band behandeln Teilaspekte, regionale sowie thematische. Ihr Wert liegt in der Feinarbeit an der Quellenbasis, welcher exakte Daten fĂŒr die generellen Thesen zu liefern imstande ist. Einige Beispiele seien herausgegriffen: Ernst Hinrichs untersucht am Beispiel Nordwestdeutschland die "Handbuchthese" des weitverbreiteten Analphabetismus bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und kommt zu differenzierenden Schlußfolgerungen. Ulricke Weckel erforscht die Mobilisierung von Leserinnen durch die ersten Frauenzeitschriften im spĂ€ten 18. Jahrhundert. (Eine Folge war etwa, daß Frauen als Publikum interessant wurden und damit das mĂ€nnliche Bildungsmonopol bedrohten.)

Ein anderes "Volksbild" als das zur Idealisierung neigende der AufklĂ€rer begegnet oftmals dem Leser von Reiseberichten der Zeit, welche Kay Kufeke untersucht. "Volk" erscheint hier idealisiert und verurteilt zugleich, zum Aufruhr neigend, gewalttĂ€tig und sittenlos. So manches Vorurteil etwa gegen Katholiken (Stichworte "Aberglaube", "MĂŒĂŸiggang", "Intoleranz"), das im Protestantismus noch lange nachwirkte, findet hier expliziten Ausdruck und Formulierung.

Daß selbst die Guillotine als "Symbol der AufklĂ€rung" verstanden werden konnte, erklĂ€rt JĂŒrgen Martschukats Aufsatz. Der Verzicht auf das ZufĂŒgen von Martern, der gleiche Tod fĂŒr alle, ließ die Köpfungsmaschine zunĂ€chst fĂŒr viele tatsĂ€chlich als Symbol fĂŒr RationalitĂ€t und HumanitĂ€t erscheinen. Eine Folge davon war, daß Miniaturguillotinen weit verbreitet waren: "Aus Mahagoni gefertigt, fand man sie auf den Tischen der besseren Salons" (S. 129). SpĂ€ter wurde dieses Tötungsinstrument als besonders grausam betrachtet, denn die makabre Frage beschĂ€ftigte Ärzte wie Publikum, ob und wie lange die enthaupteten Opfer noch Leben in sich trugen.

Weitere AufsĂ€tze behandeln etwa so disparate Themen wie das "SchlĂŒsseldelikt" der AufklĂ€rung, die Kindstötung (Kerstin Michalik, S. 143ff.), das Armenwesen in Hamburg im Widerstreit von FĂŒrsorge fĂŒr eigene, "wĂŒrdige" Arme und Abschreckung der fremden Bettler (Frank Hatje, S. 163ff.), welches zuletzt hinauslief auf eine bĂŒrokratische Erfassung der Armen als potentielle Arbeitskraft. Arno Herzig (S. 199ff.) untersucht die jĂŒdische ArmenfĂŒrsorge im Widerstreit mit der obrigkeitlichen Armenpolitik. Das Unbehagen in der simplen, zu simplen Dichotomie von "Volk" versus "Elite" klingt erneut an im letzten Aufsatz des Bandes: Francisca Loetz untersucht darin "Polyvalenzen als Modellelemente zur Erforschung der VolksaufklĂ€rung" (S. 239ff.) anhand der medizinischen VolksaufklĂ€rung in Baden. Polyvalenzen bedeutet hier eine vielfach gebrochene Reihe von Beeinflussungen von unten nach oben und umgekehrt, von Ärzten, welche Elemente der "Volksmedizin" propagierten und die "aufgeklĂ€rten" Standpunkte ignorierten, u.v.a.m.

Kurz, und das mag als Fazit fĂŒr alle AufsĂ€tze dieses Bandes gelten: "AufklĂ€rung" im praktischen Leben war vielschichtig, verlief vielschichtig und hatte vielschichtige AnhĂ€nger und Gegner sowohl beim "Volk" wie auch bei der "Elite", deren Unterscheidung ebenfalls vielschichtig war. Damit gelingt es diesem Band, eine oft allzu abgehobene Theorie der Wissenschaft mit Leben, mit Alltagsleben, zu erfĂŒllen.

Empfohlene Zitierweise:

Peter Ehrmann: Rezension von: Anne Conrad / Arno Herzig / Franklin Kopitzsch (Hg.): Das Volk im Visier der AufklĂ€rung. Studien zur Popularisierung der AufklĂ€rung im spĂ€ten 18. Jahrhundert, MĂŒnster: LIT 1998, in: INFORM 2 (2001), Nr. 3, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=431>

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