Heide Wunder / Christina Vanja / Karl-Hermann Wegner (Hg.): Kassel im 18. Jahrhundert. Residenz und Stadt, Kassel: Euregio 2000, 384 S., ISBN 3-933617-05-7, DM 59,80
Aus: Nassauische Annalen (Bd. 112 (2001), S. 586 f.)
Rezensiert von:
Alexander Link
Die Herausgeber legen hier einen Band über die Residenzstadt eines deutschen Mittelstaates am Vorabend des Untergangs des Ancien régime vor. Sich ausdrücklich von früheren Sammelpublikationen zur Geschichte der landgräflich-hessischen Hauptstadt Kassel abgrenzend (so z. B. von dem Ausstellungskatalog "Aufklärung und Klassizismus" aus dem Jahre 1979), kündigen die Herausgeber im Vorwort an, nunmehr einen Akzent auf die Sozialgeschichte zu legen, und zwar dergestalt, daß Residenz und Bürgerstadt gleichermaßen gewürdigt werden (S. 3). H. Wunder weist in ihrer Einleitung darauf hin, daß die frühere Forschung die Stadt vornehmlich aus einer herrschaftlichen Perspektive wahrgenommen habe. Demgegenüber habe die neuere Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit Arbeiten zur Wirtschafts- und Bevölkerungsgeschichte maßgebende neue Impulse zur Interpretation der Stadtgeschichte hervorgebracht.
In der Tat bietet der vorliegende Band zu diesem Aspekt eine Reihe profunder Beiträge. Unbedingt erwähnenswert ist der Aufsatz von C. Vanja, die sich mit den Institutionen aufgeklärter Wohlfahrt und mittelalterlicher Caritas befaßt. Als Kennerin der Sozialgeschichte des 18. Jh.s beschreibt die Autorin sowohl tradierte Wohlfahrtseinrichtungen wie auch die Neugründungen des aufgeklärten Absolutismus vor dem ihr wohlvertrauten überregionalen Hintergrund der sozialen Entwicklung im letzten Drittel des 18. Jh.s (hohes Bevölkerungswachstum, drastische Zunahme der Armut und des Anteils der Nichtseßhaften). Am Beispiel der hessischen Residenzstadt zeigt sich augenfällig, wie der Staat zwar mit gezielten Projekten die gravierenden sozialen Probleme anzugehen versuchte, aber weder in der Lage war, dem um sich greifenden Pauperismus mit traditionellen karitativen Maßnahmen beizukommen, noch die Rahmenbedingungen für eine längerfristig wirksame Verbesserung der materiellen Situation der Bevölkerung zu schaffen vermochte.
Eine Reihe von Beiträgen des vorliegenden Werks setzten sich mit einer für die Geschichte der Stadt im Zeitalter des Absolutismus nicht unbedeutenden Thematik auseinander: Sie gehen der Frage nach, welche Chancen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Partizipation das Bürgertum dieser Epoche hatte und in welchem Ausmaß sich so etwas wie soziale Mobilität nachweisen läßt. O. Wörner-Heil schildert, wie im gesellschaftlichen Sonderbereich der Freimaurerlogen eine ansatzweise Kooperation von Bürgertum und Adel möglich war. Zu ähnlichen Einsichten gelangt E. Mey in seiner Untersuchung über die temporäre universitätsähnliche Einrichtung des Collegium Carolinum. Berührt werden Fragestellungen dieser Art auch in der sehr faktenreichen Untersuchung von S. Brakensiek über die Staatsdiener am Beispiel der "gelehrten Räte" an der Regierung und dem Beitrag über Hof- und Hofgesellschaft von A. v. Stieglitz. Es bleibt allerdings zu fragen, ob sich aus all dem mehr ablesen läßt als die sattsam bekannte Tatsache, daß das Bürgertum als zukunftsweisender gesellschaftlicher und schließlich auch politischer Faktor bereits im Schoße der alten Gesellschaftsordnung eine gewisse Machtbasis aufbauen konnte, die es ihm schließlich ermöglichte, einen umfassenden Transformationsprozeß von Politik und Gesellschaft in Gang zu setzten. Überblickt der Leser die quantitative Verteilung der in dieser Publikation angesprochenen Themen, wird er unschwer feststellen können, daß das im Vorwort gegebene Versprechen, den Akzent auf Sozialgeschichte zu legen, nur bedingt eingelöst wurde: Lediglich gut ein Sechstel des gesamten Textes folgt explizit diesem Ansatz, so der bereits erwähnte Beitrag von C. Vanja, J. Flemmings Essay über Existenzen am Rande des Minimums und S. Schmidts Studie über Gesinde und Domestiken.
Das Gros der Autoren jedoch befaßt sich mit eben den Themen, die von jeher einen wesentlichen Anteil der stadtgeschichtlichen Betrachtung ausmachten. Zwar ist es weniger die Herrschaftsgeschichte, der hier das Interesse gilt, wohl aber sind es die augenfälligen Vergegenständlichungen herrschaftlicher Hochkultur, seien es z. B. die Sammleraktivitäten von Landgraf Wilhelm VIII., dem Begründer der Kasseler Gemäldegalerie (B. Schnackenburg), die Antikenrezeption bzw. der Aufbau der Antikensammlung (H. Schneider), das landgräfliche Schloß (D. Heppe) oder die gelehrten Kasseler Privatbibliotheken (H. Broszinski), dessen unvermittelt in den Text eingestreute Polemiken gegen Denker der Aufklärung und Wissenschaftler der Gegenwart nicht ganz nachzuvollziehen sind). Geradezu beseelt von dem Wunsch nach Huldigung von Glanz und Ruhm der Residenz ist vor allem der Beitrag von K.-H. Wegner, bei dem man sich allerdings gewünscht hätte, daß seine vollmundigen Thesen über den "Rang" der Stadt Kassel solider begründet, zumindest aber die zahlreichen Textzitate quellenmäßig belegt worden wären.
Zu Recht weist H. Wunder einleitend darauf hin, daß ein Sammelband dieser Art keineswegs alle Desiderata der Forschung berücksichtigen kann. Dennoch ist es zu bedauern, daß ein so elementares Thema wie die wirtschaftliche Entwicklung nur gestreift und bis auf eine kurze Erwähnung polizeilich verfolgter volkstümlicher Ausschweifung (S. 319) der Aspekt der Unterschichtenkultur so gut wie völlig ausgeklammert worden sind. Dies ist in Anbetracht der auch in der Illustration höchst üppigen Darstellung repräsentativer Herrschafts- und Hochkultur in der Tat ein Defizit, das zumindest als Desiderat der Forschung hätte benannt werden müssen. Zu bedauern ist schließlich auch, daß dem Band weder eine Gesamtbibliographie noch ein Register beigegeben wurden.
Siehe auch die Rezension von Annett Vollmer in PERFORM 2 (2001), Nr. 4.
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Link: Rezension von: Heide Wunder / Christina Vanja / Karl-Hermann Wegner (Hg.): Kassel im 18. Jahrhundert. Residenz und Stadt, Kassel: Euregio 2000, in: INFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=445>
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