Dagmar Scherf: Homburger Hexenjagd oder Wann ist morgen? Fakten und literarische Texte zur "Hexenverfolgung" in einer hessischen Landgrafschaft, Frankfurt a.M.: VAS 2000, 211 S., ISBN 3-88864-301-5, DM 39,80
Aus: Nassauische Annalen (Bd. 112 (2001), S. 639 f.)
Rezensiert von:
Elmar M. Lorey
Zauberei und Hexenprozeß zählen seit mehr als zehn Jahren zu den überaus fruchtbaren Themen der Frühneuzeitforschung. Neben übergreifende Darstellungen ist eine kaum mehr überschaubare Fülle an Regional- und Lokalstudien getreten. Zugleich ist das Thema in die Hände des touristischen Managements gefallen, dem es nicht selten gelingt, diese schmerzliche Phase der frühen Moderne bis zum Gedächtnisverlust in folkloristische Events umzuprägen. Sehr zum Leidwesen der "interdisziplinären Hexenforschung" übrigens, deren bisweilen atemberaubende Erkenntniszuwächse sich zwar in Fachbibliotheken ansammeln, aber - in Ermangelung kluger populärwissenschaftlicher Vermittlungsstrategien nach guter Tradition angelsächsischer und französischer Schule - politisch und gesellschaftlich nahezu folgenlos bleiben. Also: Schon wieder ein Hexenbuch, mag manch einer denken. Aber gerade an dem genannten Mangel will das Buch ansetzen.
Dagmar Scherf legt eine Folge von zum Teil schon veröffentlichten literarischen Texten vor, die in den Jahren zwischen 1982 bis 1999 entstanden. Sie reichen vom Romanfragment über Hörspiel, Erzählung, dem Protokoll einer Stadtführung durch Bad Homburg vor der Höhe bis zu einer szenischen Darstellung und enden mit einem Essay, in dem sie gewissermaßen das Resümee einer fast zwanzigjährigen Beschäftigung mit diesem Stoff zieht und den gleichzeitigen engagierten Versuchen, die Ergebnisse ihrer Recherchen einem immer neuen Publikum zu vermitteln.
Alle Beiträgen kreisen um die gleichen drei Personen: die verheiratete Becker Anna, die sechzehnjährige Kunigunde (beide aus Seulberg, heute zu Friedrichsdorf gehörend) und die Pfarrerswitwe Ottilia Preußing aus Homburg, drei Frauen, die 1653/54 im Rahmen der Verfolgungen in der Landgrafschaft Hessen-Homburg hingerichtet wurden. Drei exemplarische Fälle von 75 Opfern (darunter 61 Frauen), über die in den Jahren von 1584 bis 1658 Homburger Richter das Todesurteil sprachen. Daß keines dieser Opfer eine Spur in den Annalen der Stadt hinterlassen hat (gemeint v.a. Friedrich Lotz: Geschichte der Stadt Bad Homburg vor der Höhe. Frankfurt 1972), wurde zum entscheidenden Auslöser für eine immer wieder neu betriebene engagierte Reise in die Zeit der "mitleidlosen Gesellschaft" und eine sehr persönliche Annäherung an die Opfer. Intention ist Aufklärung, aber nicht aus der kühl-distanzierten Sicht einer Unbeteiligten, (ich) will so objektiv und wissenschaftlich-korrekt wie nötig und zugleich so subjektiv wie möglich erzählen, mich also auch gelegentlicher Tränen und einer vor Wut geballten Faust nicht schämen. Kurzum: Ich will Geschichte in Geschichten verwandeln (S. 18). Über allem also das 'fabula docet'.
Und weil die über die Jahre entstandenen und heute teils vergriffenen Texte von kommentierenden Einleitungen und kritischen Nachgedanken aus dem Präsens begleitet sind, lesen sich diese Passagen gewissermaßen als autobiographischer Subtext. Er wird zum eigentlich spannenden Teil der Lektüre. Der Leser verfolgt einen über die Zeit wachsenden und sich differenzierenden Erkenntnisprozeß, der sich vom anfangs fast monokausalen Erklärungsversuch wandelt zur komplexen und auch widerspruchsvollen Einsicht in die Entstehung und Psycho-Mechanik von individueller und kollektiver Verdrängung. Von einem in feministischer Emphase geprägten Hörspiel aus dem Anfang der 80er Jahre, in dem die Becker Anna nahezu ausschließlich als Opfer verdrängter männlicher Sexualphantasien erscheint, spannt sich ein Bogen zum szenisch dramatisierten Schicksal der Pfarrerswitwe Ottilia Preußing, an dem, wie die Autorin kommentiert, sowohl Kunigunde als auch die Becker Anna nicht unschuldig sind. ("Meine" Anna denunziert "meine" Ottilia. Das hat mir schwer zu schaffen gemacht. (...) Lange habe ich diese Tatsache zu verdrängen versucht, aber sie läßt sich nicht leugnen (S. 94). Resümee des Stückes: Daß jede Zeit sich ihre eigenen Hexen macht.
Es sind die fundamentalen juristischen Defekte des Malefizprozesses, vor allem die legalisierte Folter, die fast regelmäßig zum stereotypen Geständnis führt wie auch die erfolterte Benennung von Komplizen (Besagung), die stets neue Opfer produziert. Einmal installiert, wird dieses defekte Instrument ebenso bereitwillig genutzt zur Lösung nachbarschaftlicher oder anderer sozialen Konflikte wie als Druckmittel von unten gegen eine Landesherrschaft, die vordringlich mit Stabilisierung und Ausweitung ihrer Macht beschäftigt ist. In diesem reibungslosen Ineinandergreifen von ideologischen und sozialen Faktoren liegt die politische Relevanz für die Gegenwart. Und so zieht die Autorin in dem eigens für die Sammlung verfaßten Schlußplädoyer Judenhaß-Hexenwahn-Fremdenfeindlichkeit auch folgerichtig eine Linie vom Zaubereiprozeß gegen die Becker Anna aus dem Jahr 1653, über die Hinrichtung des 31jährigen Juden Rudolf Arndt im Steinbruch des KZ Buchwald im Mai 1940 bis hin zu Ben Nui Omar, dem algerischen Asylbewerber, der als Opfer rechtsradikaler Jugendlicher im deutsch-polnischen Grenzort Guben am 13. Febr. 1999 hinter einer Glastüre verblutet.
Der Historiker mag manchem Wort, das in literarischer Bearbeitung der alten Prozeßakten den Protagonisten in den Mund gelegt ist, "falsche Nähe" bescheinigen, weil ihnen bisweilen Denk- und Erkenntnismöglichkeiten zugemessen werden, die uns Heutigen vielleicht möglich, den Menschen von damals aber unzugänglich waren. Aber wer ohnedies den Erkenntnisweg des Historikers vorzieht, mag den Hinweisen auf Quellen, weiterführende Literatur und der Chronologie der Homburger Hexenverfolgung (im Anhang) nachgehen. Gelesen als autobiographische Reisebeschreibung in die Vergangenheit und von dort wieder zurück in die Gegenwart, läßt diese "Antigone-Arbeit" (S. 110), wie die Autorin ihr Buch nennt, den Leser teilnehmen an dem schmerzlichen Erkenntnisgewinn, daß die der Hexenjagd zugrundeliegende Suche nach Sündenböcken gerade im 20. Jahrhundert und bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein nichts an mörderischer Brisanz verloren hat (S. 177).
Empfohlene Zitierweise:
Elmar M. Lorey: Rezension von: Dagmar Scherf: Homburger Hexenjagd oder Wann ist morgen? Fakten und literarische Texte zur "Hexenverfolgung" in einer hessischen Landgrafschaft, Frankfurt a.M.: VAS 2000, in: INFORM 2 (2001), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=453>
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