Heike Düselder: Der Tod in Oldenburg. Sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu Lebenswelten im 17 und 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 34), Hannover: Hahn 1999, 390 S., 32 Abb., 1 Kartenbeilage, ISBN 3-7752-5908-2, DM 68,00
Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (Jahrgang 2001, S. 234 f.)
Rezensiert von:
Barbara Happe
Die zu besprechende Studie wurde 1997 im Fachbereich Sozialwissenschaften der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg als Dissertation angenommen. Sie geht der Frage nach, welche Bedeutung der Tod für die Menschen in der Frühen Neuzeit hatte und untersucht dies in den Regionen der Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst bzw. dem Herzogtum Oldenburg während des 17. und 18. Jahrhunderts. Dabei haben französische Forschungen zur Geschichte des Todes aus dem Umkreis der Annales-Schule, die sich vorwiegend mit katholischen Regionen befaßten, der Arbeit wichtige Impulse gegeben. Heike Düselder fragt nun nach dem Umgang der Menschen mit dem Tod in einer evangelisch-lutherischen Umgebung, die vorwiegend landwirtschaftlich geprägt war. Erkenntnisleitend ist für sie der von Edmund Husserl geprägte Begriff der "Lebenswelt", demzufolge die Geschichtswissenschaft sich eines breiten Kulturbegriffes bedient, um so die Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen aufzudecken, ohne damit allerdings den Anspruch einer "histoire totale" (Braudel) zu verfolgen (323). Der Ansatz der Rekonstruktion von Lebenswelten erscheint der Autorin als ein tragfähiges Konzept für die Mehrdimensionalität der Handlungen, Wahrnehmungen und Deutungen angesichts des Todes, das sie kritisch dem als zu starr empfundenen Begriff des Milieus und auch dem auf das Individuum bezogenen Begriff des Lebenslaufes gegenüberstellt.
Mit der Konzentration auf eine Region soll eine räumlich begrenzte Lebenswelt in der Vielfalt ihrer sozialen Beziehungen und Binnenstrukturen erfaßt werden, um sowohl mentale wie demographische Eigenheiten zu erkennen. Als geeignet erwies sich die untersuchte Region vor allem wegen ihrer konfessionellen Einheitlichkeit und ihrer territorialen und politischen Geschlossenheit. Die Haltung der Menschen zum Tode, die als eine Grundstruktur ihrer menschlichen Existenz aufzufassen sei, wird in drei Untersuchungsfeldern aufgespürt. Im ersten Teil wird der Tod und das Sterben im 17. und 18. Jahrhundert auf der Basis demographischer Befunde untersucht, d.h. es wird nach dem Ausmaß und der Periodizität der Sterblichkeit gefragt. Vitalstatistische Erhebungen aus dem 18. Jahrhundert waren hier eine maßgebliche Quelle. Im zweiten Untersuchungsfeld werden die normativen Vorgaben und Orientierungen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit in den Blick genommen. Zwei Predigtsammlungen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, welche direkte Anweisungen für den praktischen Umgang mit dem Tod und dem Sterben enthalten, zeigen, wie die Glaubensinhalte der neuen Lehre der Gottesdienstgemeinde verständlich gemacht und nahegebracht werden sollten. Weiterhin werden die Beerdigungspraktiken auf ihre "Beharrungskraft tradierter Sitten und Mentalitäten" (25) befragt. Im Zentrum der Untersuchung steht die Auswertung von gedruckten Leichenpredigten, die Auskunft über die sich wandelnde Einstellung zum Sterben im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts geben. Die als geschlossener Bestand in der Landesbibliothek Oldenburg befindlichen Leichenpredigten, die im späten 18. Jahrhundert allmählich zum Erliegen kamen, sind eine mentalitätsgeschichtliche Quelle des akademischen Bürgertums, der Beamten, Juristen und der Geistlichkeit.
Das demographische Geschehen in der Untersuchungsregion ist anhand unterschiedlicher Quellen und Vorarbeiten gut belegt. Es zeigt, daß die Mortalitätskrisen zwar in unterschiedlicher Weise und Periodizität, aber in ihrer Wirkung das Leben der Menschen bis weit in das 18. Jahrhundert hinein elementar bestimmt haben. Erst im 19. Jahrhundert werden die Kurven der Bevölkerungsentwicklung allmählich gleichmäßiger, und als Folge davon wird eine stärkere Diesseitsorientierung der Menschen spürbar. Die über weite Passagen kenntnisreiche und sorgfältige Regionalstudie wird an einem entscheidenden Punkt eklektisch, wo Heike Düselder bestrebt ist, ihre These zu belegen, daß die Geistlichen auch in dieser Region die Mortalitätskrisen dazu instrumentalisierten, die Menschen zu einem gottgefälligen Lebenswandel zu ermahnen und sie somit an die Kirche zu binden. Mit ihren Belegbeispielen verläßt sie leider die Untersuchungsregion, wenn es nachzuweisen gilt, daß bei Mortalitätskrisen - seien es Pestepidemien oder Naturkatastrophen wie die "Weihnachtsflut" im Jahre 1717 - die Beerdigungen, "die in der Regel durch ihre ritualisierte Form für Stabilität und Sicherheit im Umgang mit dem Tod gesorgt hatten, [...] in solchen Momenten häufig überstürzt und ungeachtet der bestehenden Gewohnheiten und Bräuche nach rein rationalen und pragmatischen Aspekten durchgeführt" wurden (53). Neben den materiellen Schäden der Sturmflut löste vor allem die Ungewißheit über den Verbleib der Toten große Unruhe aus, da ihnen kein ehrliches Begräbnis zuteil wurde.
In den Predigtsammlungen des 17. Jahrhunderts spiegelt sich das Krisenbewußtsein der von Kriegen, Seuchen, Naturkatastrophen und Mißernten heimgesuchten Zeitgenossen wider. Sie reflektieren die rasche Vergänglichkeit, die ständige Präsenz des Todes und mahnen demzufolge, sich rechtzeitig auf ihn vorzubereiten. Gleichzeitig wollen sie Trost spenden und waren bestrebt, die Menschen zum rechten Glauben zu bewegen. Wenn im 17. Jahrhundert neben den evangelischen Kirchenordnungen auch weltliche Verordnungen meist in restriktiver Weise Einfluß auf den Aufwand bei Beerdigungs- und Trauerbräuchen zu nehmen suchten, so bieten diese nicht zuletzt ein reiches Anschauungsmaterial für die Ausschweifungen und den Alkoholkonsum bei den Totenmahlen, die Mißstände bei den Beerdigungen und die teilweise pompösen Gepflogenheiten bei der Trauerkleidung und der Ausstattung der Trauerhäuser. Als ein Resultat dieser permanenten Regulierungsversuche sieht Düselder den Rückzug in die Privatsphäre und einen gewissen Hegemonieverlust der Kirche, welcher sich auch in den Leichenpredigten nachvollziehen lasse.
Die Nekrologe des 17. Jahrhunderts waren in ihrer Form und Ausgestaltung sehr vielseitig und entwickelten sich als Erbauungsschriften zu einer eigenen Literaturgattung. Als biographische Darstellungen, "Personalia", wurden sie schließlich zu einem zentralen Element des Totengedenkens und der repräsentativen Selbstdarstellung, die bald auf Kritik in der Kirche stieß. Heike Düselder untersucht einen Bestand von 206 Leichenpredigten nach unterschiedlichen Kriterien: auf die geschlechtsspezifische Verteilung der Adressaten, die geschlechts- und altersspezifische Zusammensetzung der Verstorbenen, denen eine Leichenpredigt gewidmet wurde, sowie deren Sterbealter, das bei den Frauen meist deutlich niedriger war als bei den Männern. Mit einem Anteil von rund 40% Leichenpredigten für Frauen kann sie die bislang in der Leichenpredigt-Forschung als gravierend hervorgehobene weibliche Unterrepräsentanz deutlich korrigieren. Auch berufsgruppenspezifische Verteilungen von 1600 bis 1800 werden vorgenommen, wobei sich die Geistlichkeit als die am stärksten vertretene Berufsgruppe erweist. Die Autorin untersucht das Spannungsfeld von Individualität und normativen Elementen sowie die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Lebensläufen. Die gedruckten Leichenpredigten dokumentieren über einen Zeitraum von 200 Jahren den Wandel der Religiosität, der sich als eine Aufwertung des Lebens bezeichnen läßt und hier wiederum mit der etwas sicherer werdenden Lebenszeit korrespondiert.
Die breit angelegte Studie nutzt unterschiedliche Quellengattungen, und wenn die Autorin dies unter Mehrdimensionalität versteht, so wird sie diesem Anspruch mehr als gerecht und bereichert unterschiedliche Forschungsaspekte.
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Happe: Rezension von: Heike Düselder: Der Tod in Oldenburg. Sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu Lebenswelten im 17 und 18. Jahrhundert, Hannover: Hahn 1999, in: INFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=461>
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.