Karin Ehrich / Christiane Schröder (Hgg.): Adlige, Arbeiterinnen und ... Frauenleben in Stadt und Region Hannover vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (= Materialien zur Regionalgeschichte; Bd. 1), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, 347 S., zahlr. Abb., Tab., ISBN 3-89534-292-0, DM 38,00
Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (Jahrgang 2001, S. 224-226)
Rezensiert von:
Christiane Cantauw
"Adlige, Arbeiterinnen und ..." - in der Tat ein ungewohnter und - wie die Herausgeberinnen einleitend selbst bekunden - "eigenartig" anmutender Titel. Von den in den Kulturwissenschaften gerne vergebenen drei Untertiteln entfällt hier einer. Und das aus gutem Grund: Denn die Herausgeberinnen möchten an dieser Stelle bewußt mit Lesegewohnheiten brechen, um den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, ihrerseits (gedanklich) weitere Gruppen von Frauen in die Aufzählung einzufügen. Erklärtes Ziel dieser Veröffentlichung, die eine neue Publikationsreihe zur Regionalgeschichte Hannovers begründen soll, ist es dementsprechend auch, zu einer aktiven Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der regionalen Frauengeschichtsforschung anzuregen. Die Autorinnen und Autoren wollen Klischees aufbrechen und zeigen, "wie sich gesellschaftliche Anerkennung, kollektive und individuelle Identität und Selbstwertgefühle ausbildeten". Vor allem den Leserinnen sollen darüber hinaus Orientierungsmuster angeboten werden, "mit denen sie sich identifizieren oder abgrenzen können" und die ihnen bei der "historischen Verortung der eigenen Identität" helfen (10).
Im Rahmen von dreizehn Beiträgen nähern sich die elf Autorinnen und zwei Autoren dem Leben von Frauen in der Stadt und Region Hannover von unterschiedlicher Seite her. Das Spektrum der dargestellten Lebensläufe und Karrieremuster reicht von bestimmten Berufsgruppen (Landhebammen, Fürsorgerinnen, Prostituierte [1], Bäuerinnen und Künstlerinnen) über die Konventualinnen der fünf Calenberger Klöster, die Ehefrauen von Hermannsburger Missionaren und die ersten Abiturientinnen Hannovers bis hin zu den Bürgervorsteherinnen des Hannoverschen Bürgervorsteher-Kollegiums und Migrantinnen aus Spanien und der Türkei. Die Autorinnen und Autoren vertreten einen "kollektivbiographische[n] Ansatz", d.h. es sollen typische Lebensläufe und Karrieremuster nachgezeichnet werden, um soziale Verhaltensweisen oder die Wirkung allgemeiner Verhältnisse auf das Leben von bestimmten Gruppen von Frauen in ihrer historischen Entwicklung nachvollziehbar zu machen (9).
Drei Untersuchungen basieren weitgehend auf empirisch erhobenem Quellenmaterial, während die übrigen Aufsätze auf der Grundlage einer Auswertung historischer Quellen geschrieben wurden. Die beiden Beiträge über die spanischen resp. türkischen Migrantinnen sind sowohl in deutscher als auch in spanischer/türkischer Sprache abgedruckt.
Obwohl der Zeitrahmen vom 17. bis ins 20. Jahrhunden reicht, ist ein Großteil der Untersuchungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Lediglich Christiane Schröder rechtfertigt mit ihrem Beitrag über die Konventualinnen in den fünf Calenberger Klöstern den angegebenen Zeitrahmen. In ihrem Aufsatz unterzieht sie die Klischeevorstellung von den in die Klöster abgeschobenen unverheirateten Frauen einer kritischen Nachfrage und kommt zu dem Ergebnis, daß die Aufnahme der Frauen in die Klöster zwar meistenteils von Männern initiiert worden war, daß die Konventualinnen aber durch eigene Einkünfte und eine eigene Wohnung im Kloster nicht nur "versorgt", sondern vor allem auch unabhängig von Verwandten waren. Weit davon entfernt, in den Klöstern lediglich auf das Ende ihrer Tage zu warten, ließen die wenigen klösterlichen Verpflichtungen den Frauen relativ große Freiräume, "um im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Schicht ein selbstbestimmtes Leben zu führen" (31). Schröders Beitrag kann als eindringliches Plädoyer dafür gewertet werden, nicht mit den Wertvorstellungen und Erfahrungen unserer Zeit an die historischen Quellen heranzutreten. Die Autorin bewahrt sich eine weitgehende Unvoreingenommenheit gegenüber dem Quellenmaterial und kann deshalb Facetten und Nuancen herausarbeiten, die uns zwingen, bestimmte liebgewordene und häufig kolportierte Bilder und Vorstellungen zu korrigieren.
Weniger gut gefallen hat mir der Beitrag von Ulrike Begemann über Frauen auf dem Land im 18. und 19. Jahrhundert, der trotz der regionalen Beschränkung thematisch m.E. allzu weit gefaßt ist. Mir erscheint es geradezu unmöglich, die Erfahrungen und Sichtweisen der sehr unterschiedlichen Gruppierungen von Frauen auf dem Lande im Rahmen von 14 Seiten auch nur annähernd ausreichend darzustellen, ohne immer wieder zu Pauschalurteilen und Klischeevorstellungen zu kommen. So hing die Säuglingssterblichkeitsrate beispielsweise sicherlich nicht ausschließlich von der medizinischen Versorgung ab, wie Begemann uns glauben machen möchte. Auch gegenüber der Tabelle auf Seite 40 über die "Säuglings- und Kindersterblichkeit im Kirchspiel Limmer" bin ich ausgesprochen skeptisch. [2] Hier fehlen jegliche Angaben über das der Tabelle zugrundeliegende Zahlenmaterial. Darüber hinaus ist mir nicht ganz klar, auf welchen Zeitraum die Tabelle sich bezieht. Bei ihrer Differenzierung in unterschiedliche Personengruppen berücksichtigt die Autorin offenbar nicht das zahlenmäßige Vorkommen dieser Personen im Dorf.
Mir ist auch nicht ganz klar geworden, weshalb die einsetzende Vermischung von Land- und Stadtbevölkerung im 19. Jahrhundert eine größere Mobilität mit sich brachte (ist es nicht eher umgekehrt?). Leider fehlen hier jegliche Erläuterungen, die ich übrigens auch benötigt hätte, wenn von "früher Neuzeit" die Rede ist, da ich eigentlich angenommen hatte, die Darstellungen bezögen sich auf das 18. und 19. Jahrhundert. Trotz dieser Schwächen erscheint mir die Schilderung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen auf dem Lande aber erfreulich unsentimental. Die "gute alte Zeit" wird als das dargestellt, was sie war: eine Vergangenheit, die von den Menschen je nach sozialer Herkunft, Besitz, Geschlecht und (manchmal) entsprechend ihres Berufes/ihrer Berufung vollkommen unterschiedlich erlebt wurde.
Vergangenheit nicht zu verklären - das ist m.E. bereits ein wichtiges Ziel geschichts- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Auch das Autorinnenteam Bettina Korff / Silke Lesemann, dessen Beitrag sich den Landhebammen im 19. Jahrhunden widmet, wird diesem Anspruch gerecht. Nahe am für die Region Hannover vorliegenden Quellenmaterial beleuchten sie die Hebammenwahl und Ausbildung vor der Neuordnung von 1844 sowie die Veränderungen, die die Dienstanweisung von 1844 für die Hebammen mit sich brachte. Weit davon entfernt, das Klischee der "weisen Frauen" wieder aufleben zu lassen, schildern die Autorinnen den Konflikt zwischen "Erfahrungshebamme" und Amtshebamme, indem sie die Argumente und Beweggründe beider Seiten (der Obrigkeit und der Dorffrauen) darstellen, so daß der Inhalt des geschilderten Konfliktes deutlich wird. Die Ablösung der "Erfahrungshebamme" wird einer gewissen ahistorischen Mystifizierung beraubt, die ihr in der Vergangenheit teilweise anhaftete.
Über die ersten Abiturientinnen und über die Bürgervorsteherinnen Hannovers in der Zeit von 1919 bis 1933 informiert Karin Ehrich in zwei Beiträgen, die sich beide durch einen gewissenhaften Umgang mit dem vorliegenden Quellenmaterial auszeichnen. Gerade im Rahmen dieser beiden Themenbereiche wird deutlich, welche Chancen und Möglichkeiten sich den Frauen vor achtzig bis hundert Jahren überhaupt boten. Sowohl bei den Abiturientinnen als auch bei den Bürgervorsteherinnen handelte es sich zweifellos um ausgesprochen kleine Gruppen von Frauen, die sich entweder durch ihre soziale Stellung [3] oder durch ihr außerordentliches politisches Engagement auszeichneten. Dies ist der Autorin sehr wohl bewußt, wenn sie schreibt: "Bildung und Beruf entscheiden heute immer mehr über Lebenschancen. Die differenzierte Analyse der Vergangenheit bietet hierzu Orientierungshilfen für die Zukunft. Damit diese nicht im Traditionellen verhaftet bleiben, ist gerade der Blick auf die historischen Ausnahmen wichtig, die das vermeindlich Unmögliche geschafft und mit ihren Einstellungen und Handlungen starre gesellschaftliche Haltungen aufgebrochen haben." (151 f.) Bei Ehrich gerät die Beschäftigung mit der Vergangenheit niemals zum Selbstzweck; im Gegenteil: Aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte entwickelt sie Perspektiven und teilweise auch dezidierte Forderungen an die Politik der Gegenwart und Zukunft. [4]
Der Sinn regional begrenzter historischer Forschung liegt selbstverständlich auch darin, die Ergebnisse übergreifender Studien an dem für die Region vorliegenden Quellenmaterial zu überprüfen. Eine solche Überprüfung kann auch zu der Erkenntnis führen, daß die Verhältnisse in der Region von den für viele andere Regionen festgestellten Verhältnissen abweichen. Dies stellt auch Doris Marquardt in ihrem Beitrag über die Lebensläufe hannoverscher Fürsorgerinnen in der Zeit von 1913 bis 1938 fest. In Hannover bot sich in dem von der Autorin bearbeiteten Zeitrahmen nämlich nicht das Bild der ausschließlich im Außendienst mit untergeordneten Tätigkeiten betrauten, bis an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Leistungskraft angespannten Fürsorgerin. Im Gegenteil: Im Wohlfahrtsamt Hannover arbeitete eine vergleichsweise große Anzahl von Frauen im Innendienst, und Frauen bekleideten dort durchaus auch leitende Positionen!
Wie oben bereits erwähnt, arbeiten drei Autorinnen mit empirisch erhobenem Quellenmaterial. Brunhild Müller-Reiß widmet sich in ihrem Beitrag den Erlebnissen und Erfahrungen von Frauen der Arbeiterbewegung in der Zeit vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung. Anhand von weit über 30 Interviews, die sie jedoch bereits 1983/84 geführt hat, stellt die Autorin heraus, welche Formen von Widerständigkeit sich innerhalb der Gruppe der Frauen aus der Arbeiterbewegung feststellen lassen. Müller-Reiß betrachtet ebenso die politische Sozialisation der von ihr befragten Frauen wie ihre Möglichkeiten, im politischen Umfeld aktiv zu werden, [5] und kommt zu dem Ergebnis, daß ein Großteil ihrer Gesprächspartnerinnen eher als "randständig" zu bezeichnen ist, "daß sie mittrugen, aktiv als wichtiger Teil des politischen Milieus, nicht aber aktiv hinsichtlich politischer Entscheidungen" (257). Müller-Reiß läßt es aber nicht bei dieser Feststellung bewenden, sondern wehrt sich dagegen, diese "Randständigkeit" als Defizit zu bezeichnen. Zivilcourage, in der heutigen Zeit immer wieder eingefordert, läßt sich auch und gerade anhand historischer Vorbilder erlernen. Daß es nicht immer namhafte Personen und sensationelle Taten sein müssen, die uns an Werte wie Menschlichkeit, Solidarität und Verantwortlichkeit erinnern, ist ein wichtiges Ergebnis dieses Beitrages.
Obwohl die Herausgeber der Reihe darauf verweisen, daß der vorliegende Band einen Forschungsbereich erschlossen habe, "der bisher in den allgemeinen Darstellungen zur Geschichte Hannovers und seiner Region kaum berücksichtigt wurde" (7 f.), so bleibt doch anzumerken, daß das Thema und die Art der Herangehensweise keineswegs neu ist. So wurde beispielsweise für Stadt und Landkreis Münster bereits 1991 eine vergleichbare Buchpublikation mit dem Titel "Frauenleben in Münster" herausgegeben. Titel und Themenauswahl gerade dieser Publikation weisen selbst bei oberflächlicher Betrachtung derart starke Parallelen zu der zu besprechenden Abhandlung auf, daß es m.E. angebracht gewesen wäre, auf die Münsteraner Veröffentlichung im Vorwort oder in der Einleitung hinzuweisen.
Erklärtes Ziel der vorliegenden Buchpublikation war es u.a., die "aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte" zu fördern. Dies ist den Autorinnen und Autoren m.E. voll und ganz gelungen. Viele der Beiträge regen zur kritischen Reflexion der Vergangenheit, zum Überdenken der Gegenwart und zum Ausloten von Perspektiven für die Zukunft an. Weibliche (Lebens-)Verhältnisse, Berufsperspektiven, Karrieremuster und die (teilweise) ausgesprochen engen Grenzen weiblichen Lebens im allgemeinen sind sichtbar geworden, indem die Geschichte ausgesprochen unterschiedlicher Gruppen von Frauen fokussien wurde, an die seitens der Autorinnen und Autoren nicht das Ansinnen herangetragen wird, daß sie jeweils stellvenretend für die Frauen in der Stadt und Region Hannover stehen sollen. Im Gegenteil: Einen Großteil der Frauen in der vorliegenden Publikation eint das Schicksal einer historischen Ausnahme: Sie haben etwas gewagt, sich ungewöhnlichen Situationen gestellt, Konventionen hinterfragt, ein Teil von ihnen hat etwas erreicht, für sich, aber auch für andere, ein anderer Teil ist gescheitert, an den gesellschaftlichen Verhältnissen oder an den engen Grenzen der Konvention. Ob es nun die Spanierinnen in der Keksfabrik, die Totenfrauen von Hannover, die Ehefrauen der Hermannsburger Missionare, die Frauen und Mädchen aus den unteren Bevölkerungsschichten, die sich in ihrer Not zur Prostitution gezwungen sahen, oder die Migrantinnen aus der Türkei waren, sie alle sind in den Beiträgen lebendig geworden - nicht nur als Frauen, sondern als Personen und Persönlichkeiten aus der Stadt und Region Hannover.
Anmerkungen:
[1] Die Prostituierten können nur bedingt als "Berufsgruppe" eingestuft werden, da es dem Autor in seinem Beitrag auch und vor allem um die sogenannte "Notlagenprostitution" geht.
[2] Die von der Autorin hier vorgenommene Differenzierung der Dorfbevölkerung nach sozioökonomischen Kriterien ist zwar sehr löblich, dem interessierten Laien mag jedoch nicht in jedem Fall klar sein, was genau den Unterschied ausmacht zwischen einem Meier, Kötner oder Beibauern.
[3] Ehrich weist deutlich darauf hin, daß es sich bei den ersten Abiturientinnen Hannovers fast ausschließlich um junge Frauen aus den protestantisch geprägten Mittel- und Oberschichten handelte.
[4] So kommt sie in dem Beitrag über die Hannoverschen Bürgervorsteherinnen abschließend zu dem Ergebnis, daß es der Stadt Hannover gut anstünde, die Leistungen der Bürgervorsteherinnen "postum zu würdigen und sie durch die Benennung einer Straße oder eines öffentlichen Gebäudes in das kommunale Langzeit-Gedächtnis aufzunehmen " (204).
[5] "Politik im handelnden und verantwortlichen Sinne war männlich dominiert und definiert"! (244).
Empfohlene Zitierweise:
Christiane Cantauw: Rezension von: Karin Ehrich / Christiane Schröder (Hgg.): Adlige, Arbeiterinnen und ... Frauenleben in Stadt und Region Hannover vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, in: INFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=462>
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