Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850) (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte; Bd. 14), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, 456 S., 1 Abb., ISBN 3-525-35679-X, DM 88,00
Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (Jahrgang 2001, S. 223 f.)
Rezensiert von:
Heidi Rosenbaum
Mit der Darstellung der Geschichte der Familien Merkel und Roth will Rebekka Habermas die Besonderheiten bürgerlicher "Kultur und Lebensführung" zwischen 1750 und 1850 herausarbeiten. Dabei richtet sie ihr Augenmerk in erster Linie auf das Zusammenleben von Frauen und Männern (9, 22). Untersucht wird es in den Bereichen Arbeit, Geselligkeit und Familie. Bemerkenswert ist die Kombination eines mikrohistorisch-geschlechtergeschichtlichen Ansatzes mit einer über zwei Generationen reichenden historischen Perspektive.
Habermas entwirft ihr Untersuchungsprogramm im Kontrast zur bisherigen Bürgertumsforschung, die durch ihre Kriterien (wirtschaftliche Selbständigkeit, Anspruch auf Zugehörigkeit zur Elite und politische Herrschaft) nicht nur viele Bürger, sondern insbesondere Bürgerinnen ausgeschlossen habe. Weiterhin kritisiert sie die - angebliche - Gleichsetzung von Normen und Geboten mit der faktischen Lebensführung in der bisherigen Forschung. Demgegenüber verfolgt Habermas einen erfahrungsgeschichtlichen Ansatz, der gerade darauf zielt, die Diskrepanzen zwischen Normen, Werten und Selbstdefinitionen einerseits und den tatsächlichen Praktiken andererseits herauszuarbeiten (11). Auf ihnen liegt das Schwergewicht der Analyse, lassen doch die Praktiken die unterschiedlichen Erfahrungen bzw. Aneignungsformen sichtbar werden (12). Dieser Ansatz der historischen Anthropologie, zu deren profiliertesten Vertreterinnen Habermas zählt, wird dann auf insgesamt 400 Seiten umgesetzt. Basis der Untersuchung ist ein bemerkenswert umfänglicher Quellenbestand von Ego-Dokumenten unterschiedlicher Provenienz sowie anderen normativen Quellen zweier Familien: der Nürnberger Kaufmannsfamilie Merkel und der Familie einer ihrer Töchter, die mit einem Angehörigen des Bildungsbürgertums verheiratet war und in München lebte.
Insgesamt ist Habermas eine spannende Untersuchung gelungen, die durch die dichte mikrohistorische Beschreibung dem Leser bzw. der Leserin die Lebensumstände der Personen ebenso nahebringt wie Einblicke in deren Denken, Fühlen und Handeln erlaubt. Detailliert und mit viel Einfühlungsvermögen schildert sie die Arbeitsbereiche und Arbeitseinstellungen, die häusliche und außerhäusliche Geselligkeit, schließlich das Familienleben und -erleben der Frauen und Männer dieser beiden Familien. Mit besonderem Interesse habe ich das erste Kapitel gelesen, das sich mit den Tätigkeitsbereichen und Arbeitseinstellungen der Frauen und Männer beider Generationen beschäftigt. Ich halte es für besonders gelungen. Insbesondere der Nachweis ähnlicher Tätigkeitsstrukturen von Frau und Mann bei den alten Merkels, die einem geradezu klassischen "Ganzen Haus" vorstanden, aber auch bei den Angehörigen der zweiten Generation überzeugt. Bisherige Annahmen über die Auseinanderentwicklung männlicher und weiblicher Tätigkeiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden ebenso widerlegt wie die Vorstellung von einer Veränderung der Hausarbeit in diesem Zeitraum. Habermas kann vielmehr zeigen, daß die Hausarbeit im wesentlichen unverändert bleibt, die bürgerliche Frau jedoch andere Perspektiven darauf entwickelt (Handarbeit als Liebesdienst!) und ihre zentralen Aufgaben in der Herstellung und Pflege von Beziehungen sowie der Erziehung von Kindern und Personal sieht. Das hat mich beeindruckt, anderes allerdings weniger.
Ich möchte bezweifeln, ob Habermas zu diesen Ergebnissen auch gekommen wäre, wenn beide von ihr untersuchten Familien dem Bildungsbürgertum angehört hätten. Diese Frage verweist auf ein generelles Problem der Untersuchung, die sozioökonomische Verschiebung zwischen den Generationen, die Habermas zwar erwähnt, aber nicht durchgängig thematisiert und methodisch reflektiert. Vieles von dem, was sie als typisch für die dem Bildungsbürgertum zugehörige zweite Generation herausarbeitet, hätte sie m. E. auch bei der Untersuchung einer bildungsbürgerlichen Familie des ausgehenden 18. Jahrhunderts feststellen können. So erklärt sich die auffallend außerhäuslich orientierte und geschlechtsspezifisch getrennte Geselligkeit der alten Merkels, einer Kaufmannsfamilie, als Folge der bei Kaufleuten notwendigen Orientierung nach außen, die für den Mann verpflichtender war als für die Frau. Die Pflege von Kontakten zu Geschäftsfreunden, städtischen Politikern und anderen Honoratioren war überlebenswichtig. Ganz anders stellte sich das Geselligkeitsproblem bei der Tochter. Sie lebte mit ihrem Mann, einem Beamten, und ihren Kindern in der bayerischen Residenzstadt. Als Protestanten befanden sie sich im katholischen München sozial in einer schwierigen Situation. Der Rückzug auf wenige intime Freunde, die Konzentration beider auf die weitgehend gemeinsame häusliche Geselligkeit sind m. E. dieser beruflichen und sozialen Situation geschuldet. Mit anderen Worten: Die nachgewiesenen Differenzen zwischen den Familien verdanken sich weniger der Tatsache, daß sie unterschiedlichen Generationen angehören, als der zwischen ihnen bestehenden sozioökonomischen Differenzen.
In ihrem Familienkapitel betont Habermas besonders die Diskrepanz zwischen dem im bürgerlichen Diskurs über Ehe und Familie entwickelten Ideal der Liebesheirat und der Praxis des Austarierens unterschiedlicher materieller und sozialer Interessen. Diese Erkenntnis ist nun allerdings nicht so neu, wie Habermas offensichtlich glaubt. Die Beschäftigung mit dem Auseinanderklaffen von "Ideal und Wirklichkeit" in der bürgerlichen Ehe durchzieht die familienhistorische Literatur schon seit zwei Jahrzehnten. Insofern bestätigt Habermas hier mehr bereits Bekanntes, als daß sie Neues herausarbeitet. Das gilt übrigens auch hinsichtlich ihrer Erkenntnis, Kinder seien eine neue Gemeinsamkeit des bürgerlichen Ehepaares im 19. Jahrhundert.
Insgesamt liegt die Qualität von Habermas' Studie in der Detailliertheit der Untersuchung sowie der einfühlsamen Rekonstruktion des Lebens, Denkens und Fühlens "ihrer" Akteure. Hier zeigen sich sehr deutlich die Vorzüge des mikrohistorischen Zugangs. So "dicht" kann man auf andere Weise an die Personen nicht gelangen! Die "großen Linien" der Entwicklung werden allerdings weniger gut getroffen. Das liegt zum einen offenbar an einer mangelnden Rezeption bzw. einer Fehlinterpretation bisheriger familienhistorischer Literatur. Am gravierendsten sind m.E. aber die bereits angedeuteten Probleme: Von gelegentlichen Bemerkungen abgesehen, fehlt die systematische Reflexion der sozioökonomischen Verschiebungen zwischen der ersten und der zweiten Generation und ihrer Relevanz für die Gestaltung von Familienverhältnissen und Beziehungen. Darüber hinaus wird nicht ausreichend zwischen der Ebene der untersuchten Einzelfälle und der generalisierender Schlußfolgerungen unterschieden. Zwar diskutiert Habermas gelegentlich auch das Problem, welche ihrer Ergebnisse mit der spezifischen Lebenssituation ihrer beiden Familien zusammenhängen und welche generelleren Charakters sind. Sie macht das aber nicht durchgängig, mit der Folge, daß sie teilweise sehr weitreichende, verallgemeinernde Aussagen aus ihrem doch sehr eng begrenzten Material ableitet. Mit diesen Bemerkungen will ich den Wert mikrohistorischer Untersuchungen nicht schmälern. Ich schätze ihn sehr hoch ein. M. E. aber darf keine mikrohistorische Studie darauf verzichten, sehr konsequent zu diskutieren, welche ihrer Ergebnisse verallgemeinerbar und welche den Besonderheiten des Einzelfalles geschuldet sind.
Empfohlene Zitierweise:
Heidi Rosenbaum: Rezension von: Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, in: INFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=464>
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