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Wolf-Henning Petershagen: Schwörpflicht und Volksvergnügen. Ein Beitrag zur Verfassungswirklichkeit und städtischen Festkultur in Ulm (= Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm; Bd. 29), Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 1999, 316 S., 19 Abb., ISBN 3-17-016092-3, DM 46,15

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (Jahrgang 2001, S. 220 f.)

Rezensiert von:
Daniel Drascek

Jahr für Jahr feiert Ulm im Juli seinen "Nationalfeiertag", den Schwörmontag, der Höhepunkt städtischer Festkultur. Im Zentrum des Ulmer Schwörtages, der sich etwa 650 Jahre zurückverfolgen lässt, stand ein öffentlicher Eid der erwachsenen männlichen Bevölkerung auf die reichsstädtische Verfassung. Ein solcher festlicher Schwurakt lässt sich in den meisten freien Reichsstädten bis in die frühe Neuzeit hinein belegen. Bemerkenswert ist im Falle Ulms, dass der Schwörtag noch heute festlich begangen wird, obwohl die Stadt 1803 ihren Status als reichsfreie Stadt mit eigener Verfassung und damit den Anlass für die Schwörfeier verloren hat. Wolf-Henning Petershagen, der in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft studiert und mit der vorliegenden Arbeit bei Gottfried Korff und Utz Jeggle promoviert hat, beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Ulmer Festkultur, wozu er Zeitungsartikel, Aufsätze und eine Monographie - über "Zünftige Lustbarkeiten. Das Ulmer Fischerstechen. Der Bindertanz" (1994) - vorgelegt hat. Hieraus erklärt sich, wieso einige Aspekte des Festgeschehens und die jüngste Entwicklung des Schwörtages in "Schwörpflicht und Volksvergnügen" nur knapp behandelt werden.

Am Ausgangspunkt steht die Frage: "Warum feiert Ulm heute immer noch bzw. wieder Schwörmontag?" Die Suche nach einer Antwort führt den Autor zunächst bis in das Mittelalter zurück, um von dort den komplexen Veränderungen des Festes bis in die Gegenwart nachzuspüren. Konsequent verfolgt Petershagen in synchronen Schnitten die Fragen, was der Schwörtag für welche Gruppe der Bevölkerung bedeutete und welche Funktion das Geschehen für das politische Gebilde der Reichsstadt besaß. Der Verfasser erweist sich dabei als scharfsinniger Analytiker, der seine oft spröden Quellen, vor allem die 1501 einsetzenden Ratsprotokolle, zum Sprechen bringt. Methodisch knüpft die Arbeit an die historisch-archivalischen Untersuchungen der "Münchner Schule" um Hans Moser und Karl-Sigismund Kramer an.

Die älteste archivalisch fassbare Phase der Schwörfeier umfasst den Zeitraum von 1345 bis 1548. Am Ausgangspunkt steht ein Machtkampf zwischen Patriziern und Zünften, den letztere zu ihren Gunsten zu entscheiden wussten und im "Kleinen Schwörbrief" von 1345 (spätestens 1397 durch den "Großen Schwörbrief" abgelöst) besiegelten. Mindestens so alt wie der erste Schwörbrief scheint die Ulmer Schwörfeier zu sein, über deren konkrete Praxis erst mit Einsetzen der Ratsprotokolle im frühen 16. Jahrhundert genaueres bekannt wird. Wie man sich eine solche Schwörfeier am Georgstag (23. April) vorzustellen hat, rekonstruiert Petershagen idealtypisch für 1548. Zum ritualisierten Ablauf des Schwörtages - an dem die Kaufläden geschlossen waren und die Stadttore überwacht wurden - gehörte der Aufmarsch der Zünfte, der öffentliche Schwörakt, das Zechen der Zünfte in ihren Herbergen und die Verteilung von Geschenken. Der Zunftaufmarsch war ein Akt öffentlicher Repräsentation, der das Selbstwertgefühl der Zunftmitglieder stärkte. Im Festzyklus der Reichsstadt hatte der Schwörtag eine hohe Wertigkeit erlangt, er war zum Feiertag des "gemeinen Mannes" geworden. Doch hob Kaiser Karl V. 1548 die Zunftverfassung auf und stellte die aristokratische Vorherrschaft wieder her.

Die zweite Phase der Schwörfeier umfasst den Zeitraum von 1558 bis 1803. Nach Wunsch des Kaisers hätte es ein dauerhaftes Ende der Schwörtradition sein sollen, doch verstummten die Klagen nicht, bis die Ulmer 1558 wieder einen Schwörbrief erhielten, der an den neuen Machtverhältnissen jedoch nichts änderte. Vorausgegangen waren kaschierte Formen des Widerstandes gegen das kaiserliche Verbot. Beispielsweise kommt dem drastischen Anstieg von Anträgen der Gesellen auf öffentliche Veranstaltungen im Jahr nach dem Zunftverbot ein demonstrativer Charakter zu. Der Schwörtag hatte sein erstes Ende überlebt, weil er sich zu einem populären Feiertag entwickelt hatte und für die männliche Jugend, die ab einem bestimmten Alter (1683 lag dieses bei 16 Jahren) schwören durfte, ein Initiationsritual in die Welt der Erwachsenen darstellte. Der Angriff des Kaisers auf den Schwörtag scheint diesen erst richtig im Bewusstsein der Ulmer verankert zu haben.

Nach 1558 vollzog der Schwörtag einen deutlichen Wandel. Während der Kern des Verfassungsfestes, aufgrund einer Umkehrung der Machtverhältnisse zu Ungunsten der breiten Bevölkerung, an Bedeutung verlor, gewann die Entwicklung zum Volksfest. Da der Kaiser den Schwörakt am Georgstag verworfen hatte, einigte man sich auf einen Montagstermin im August. Die Akzeptanz des Termins deutet an, dass es fortan weniger um den rechtlichen Schwörakt als um den ritualisierten Vollzug der Schwörfeier und die damit verbundenen Festlichkeiten ging. Durch die Anlagerung anderer Feste an die im Sommer begangene Schwörfeier kam es zu einer grundlegenden Umschichtung der Ulmer Festkultur. Dazu gehört die Ulmer Fastnacht, die sich - kurz nachdem um 1610 die letzten Belege für diese aufhören - zumindest in Elementen in den Schwörtag hinübergerettet zu haben scheint. Geprägt war die Ulmer Fastnacht (seit etwa 1500 belegt) vor allem durch Maskierungen, Gesellenumzüge (z.B. Heischeumzüge, Pflugziehen, ein Licht oder "Heußlin" in der Donau versenken). Rügebräuche und Fastnachtsspiele. Zunächst ist von einem direkten Einfluss der 1530/31 eingeführten Reformation auf die Fastnacht kaum etwas zu bemerken. Subtil weist Petershagen nach, wie dann jedoch von etwa 1588 bis 1610 die Fastnacht durch eine anscheinend wenig konsequente Verbotspraxis einzelner Brauchelemente dennoch allmählich ausgetrocknet wurde. Für die verloren gegangene Fastnacht schuf sich ein Teil der Gesellen im Rahmen der Schwörfeier Ersatz. So taucht das bis ins frühe 17. Jahrhunden in der Fastnacht praktizierte Fischerstechen wenige Jahrzehnte später im Kontext der Schwörfeier wieder auf.

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich bei der Ulmer Kirchweih ab, zu der das "Bäuerlein-Herunterfahren" der Fischer gehörte. Auf zwei mit Brettern verbundenen Zillen standen Bauer und Bäuerin, die zur Belustigung der Zuschauer geschaukelt, ins Wasser gestoßen und danach wieder ins Boot gezogen wurden, um ihnen den Hintern zu versohlen. Als 1713 das Ende der Ulmer Kirchweih und dieses Brauches kam, verlagerte sich dieser auf den Schwörtag. Diese Entwicklung gilt auch für das "Symel-" oder "Himmelfeuer", für das Buben "Maien" sammelten, um sie am Johannistag zu entzünden. Zwar war dieser Sonnwendbrauch spätestens seit 1525 verboten, dennoch wurde er weiterhin gepflegt, bis sich der Brauch in den 1740er Jahren auf den Schwörtag verlagerte. Hinter der Entwicklung von Fastnacht, Kirchweih und Himmelsfeuer lässt sich der Geist des Protestantismus erkennen. Dabei vermied es die städtische Obrigkeit frontal gegen Bräuche zu Felde zu ziehen, begünstigte jedoch deren Verlagerung auf den Schwörtag. Die protestantische Bevölkerung scheint diese Entwicklung als Beitrag zur Distinktion gegenüber den Katholiken und den papistischen Bräuchen mit getragen zu haben.

Das Ulmer Fischerstechen und der Bindertanz werden von Petershagen als Phänomene eines frühen Folklorismus thematisiert. So gelangte das Fischerstechen auch außerhalb seiner Bindung an Fastnacht oder Schwörmontag vor hohen Gästen (z.B. 1550 vor Kaiser Karl V. und 1643 vor Herzog Eberhard von Württemberg) zur Aufführung, ja die Ulmer Fischer stachen sogar außerhalb der Stadt (z.B. 1698 in Wien und 1763 in Augsburg). Ausgeübt von unverheirateten jungen Fischern, gehörte das prestigeträchtige und finanziell einträgliche Stechen zu den Mannbarkeitsriten, das zusammen mit dem "Bäuerlein-Herunterfahren" zur "Folklorisierung" des Schwörtages beitrug. Beide Veranstaltungen fanden Jahr für Jahr alternierend statt, so dass jedes Jahr am oder nach dem Schwörtag Spektakuläres geboten war. Hinzu kam am Schwörtag der "Bindertanz", der sich auf das Jahr 1745 zurückführen lässt, als ein Ulmer und ein aus Regensburg stammender Bindergeselle beim Rat einen entsprechenden Antrag stellten. Allerdings bleibt zu fragen, inwieweit der Bindertanz nicht schon von Beginn an eine nostalgische Veranstaltung war, da die hohe Zeit der Zunfttänze auch in Ulm längst vorüber war.

Der Schwörtag hatte sich im Verlauf des 17 Jahrhunderts nicht nur durch die Anlagerung von Bräuchen, die durch die Reformation 'heimatlos' geworden waren, stark verändert. Gefährdet war vor allem der eigentliche Schwörakt durch Störfaktoren wie Lärm, Unordnung und Alkohol, die teilweise als demonstratives Desinteresse aufgefasst werden können. Seit dem Dreißigjährigen Krieg häuften sich die Beschwerden über den Alkoholkonsum, so dass sich der Rat 1707 gezwungen sah, den Schwörakt von der Mittagszeit auf den Vormittag zu verlegen, um die Würde des Schwuraktes wieder herzustellen. Auch den gehäuften Klagen über Unordnung und Lärmbelästigung durch Frauen und Buben versuchte der Rat gegenzusteuern. Ungefährdet scheint dagegen das populäre Festgeschehen nach dem Schwörakt, da der Schwörtag für das Ulmer Stadtvolk, nach dem Verlust von Fastnacht und Kirchweih, das einzige große profane Fest darstellte. Durch den Übergang der freien Reichsstadt an die kurbayerische Herrschaft im Jahre 1803 schien das Schicksal der Schwörtagsfeiern jedoch erneut besiegelt.

Die dritte Phase der Schwörfeier umfasst den Zeitraum von 1803 bis zur Gegenwart, wobei Petershagen die Entwicklung bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer verfolgt, den weiteren Weg aber nur noch stichwortartig darlegt. Mit dem Verlust der reichsstädtischen Verfassung war dem Schwörtag die Existenzgrundlage entzogen und so löste sich das Festkonglomerat in seine Bestandteile auf. Beispielsweise hielten die Fischer ihr Stechen durch sporadische Auftritte im Bewusstsein der Ulmer wach. Schon 1818 lässt sich durch die Romantik begünstigt eine deutlich wieder erwachte Begeisterung für das Fischerstechen nachweisen, und in den folgenden Jahrzehnten gehörte das Stechen zum Rahmenprogramm großer, in Ulm tagender Veranstaltungen (1836 erstes deutsches Liederfest mit 12.000 Teilnehmern; 1842 Tagung der deutschen Philologen; 1855 Versammlung der deutschen Altertumsforscher). Zudem beteiligten sich die Fischer an den großen historischen Festzügen von 1877 zum 500. Jahrestag der Grundsteinlegung des Ulmer Münsters und 1890 anlässlich der Vollendung des Münsterturms. Die Fischer organisierten weiterhin eine an den Schwörtag gebundene Wasserfahrt in die Friedrichsau, wo populäre Belustigungen warteten. Seit etwa 1861 wurde der Schwörtag immer offensiver gefeiert und gehörte damit, ohne je ganz verschwunden zu sein, wieder zum festen Bestandteil des Ulmer Festgeschehens. Es war die Konzentration von Volksfestelementen, die dem Ulmer Schwörtag genügend Schwung verlieh, um ihn nach 1803 nicht gänzlich abstürzen zu lassen wie die Schwörtage anderer freier Reichsstädte. Das Ende der stadtbürgerlichen Traditionen hatte zu einem nachhaltigen Identitätsverlust gefühlt. In Ulm entwickelte sich unter dem Einfluss der Romantik der alte Schwörtag zu einem posthum verklärten Symbol reichsstädtischer Vergangenheit.

Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert hatte sich der Schwörmontag wieder zum regelrechten Ulmer Feiertag entwickelt. Sukzessive wurden ältere Festelemente des Schwörmontags, verstärkt durch den erwachenden Fremdenverkehr, reaktiviert. Dazu gehört, dass der Bindertanz 1921 nach 119 Jahren erstmals wieder aufgeführt wurde und 1927 aus den unregelmäßigen Wasserfahrten, in Anlehnung an das "Bäuerlein-Herunterfahren", das "Nabaden" auf der Donau entstand. Der Schwörmontag überdauerte als inoffizielles Stadtfest mehr als ein Jahrhundert, bis die nationalsozialistische Politik das Schwörfest offiziell reanimierte und in den Dienst ihrer Ideologie stellte. Nationalsozialisten nutzten 1933 den Schwörtag, um ihren Oberbürgermeister ins Amt zu setzen und inszenierten dazu einen großen Aufmarsch im Stadion, wo die Bevölkerung dem neuen Stadt-Führer die Gefolgschaft schwor. Zwei Jahre später wurde die Ulmer Fest- und Heimatwoche zum Anlass genommen, den Schwörtag .wieder mit Fischerstechen und Bindertanz zu verbinden. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte Oberbürgermeister Theodor Pfizer den traditionellen Schwörtag unter demokratischen Vorzeichen fort. So erweist sich der Festkomplex des Schwörtages, so Petershagen, über Jahrhunderte hinweg bis zur Gegenwart als genügend flexibel, um sich den jeweils veränderten Bedürfnissen anzupassen.

Petershagens beeindruckende Quellenarbeit stößt zu zentralen Problemen der historischen Brauch- und Festforschung vor. Das gilt beispielsweise für die Frage nach dem Einfluss der Reformation auf das Brauchverhalten der städtischen Bevölkerung. Exemplarisch führt der Verfasser vor, wie durch die Einführung der Reformation die nun als papistisch diskreditierten Bräuche keineswegs schlagartig zum Erliegen kamen. Vielmehr ist mit einer längeren, von der Obrigkeit keineswegs konsequent durchgeführten Verbots- und Steuerungspraxis zu rechnen, die auf dem Distinktionswillen der protestantischen Bevölkerung fußte. Subtil weist der Verfasser eine durch diese Politik begünstigte Verlagerung einzelner Brauchelemente unter veränderten Rahmenbedingungen nach. Gerade vor diesem Hintergrund hätte für den Verfasser die Chance bestanden, in zentrale Kontroversen volkskundlicher Brauchforschung der beiden letzten Jahrzehnte sachkundig einzugreifen. Weitere Möglichkeiten eröffnen sich für eine vergleichende Perspektive, die verstärkt eine Reihe von Untersuchungsergebnissen zu anderen freien Reichsstädten - beispielsweise Nürnberg - in die Überlegungen mit einbezieht. Bescheiden bezeichnet Petershagen seine äußerst gehaltvolle Untersuchung als "eine reine Lokalstudie", die jedoch die Qualität eines Standardwerkes besitzt, das der überregionalen Forschung sicher noch manchen Anstoß zu liefern vermag.

Empfohlene Zitierweise:

Daniel Drascek: Rezension von: Wolf-Henning Petershagen: Schwörpflicht und Volksvergnügen. Ein Beitrag zur Verfassungswirklichkeit und städtischen Festkultur in Ulm, Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 1999, in: INFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=468>

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