Anette Völker-Rasor (Hg.): Frühe Neuzeit. Mit einem Geleitwort von Winfried Schulze (= Oldenbourg Geschichte Lehrbuch), München: Oldenbourg, 507 S., ISBN 3-486-56426-9, DM 69,00
Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde (46 (2001), S. 433-435)
Rezensiert von:
Peter Arnold Heuser
Bonn
Die Frühe Neuzeit setzte sich erst seit den 1950er Jahren als eine eigenständige historische Epoche in den Grenzen von 1500-1800 durch. Der Oldenbourg-Verlag in München bereichert die Frühneuzeitforschung um ein "Lehrbuch für das Geschichtsstudium, vor allem für dessen Beginn"; ein Lehrwerk für das Grundstudium, das "inhaltlich und stilistisch [...] auf Abiturniveau" ansetzt und "zur Ausbildung von Spezialwissen [...] erst hinführen" soll (S. 7). Die Adressaten sind "in erster Linie [...] Studentinnen und Studenten der Geschichtswissenschaft, aber auch [...] Studierende benachbarter Disziplinen. Weiterhin mag das Buch den Dozentinnen und Dozenten, bei denen die Lehre des Grundstudiums liegt, als taugliches Hilfsmittel für ihre Seminare dienen. Und nicht zuletzt wird hiermit auch Lehrerinnen und Lehrern, die in der gymnasialen Oberstufe Geschichte als Leistungskurs unterrichten, eine Unterstützung angeboten" (S. 7).
Der Autorenkreis ist breit und setzt sich größtenteils aus jüngeren Historikern der Geburtsjahrgänge zwischen 1955 und 1963 zusammen, die "ihre Nähe zur Lehre im Grundstudium und ihr besonderes Interesse an Fragen der Vermittlung" eint (S. 8). Der Kreis der Beiträger umfasst in alphabetischer Reihenfolge: Peter Burschel, Renate Dürr, Stefan Ehrenpreis, Almut Franke-Postberg, Dagmar Freist, Cathrin Friedrich, Thomas M. Fröschl, Ralf-Peter Fuchs, Silke Göttsch-Elten, Iris Grötecke, Mark Häberlein, Karl Härter, Gregor Horstkemper, Katrin Keller, David Lederer, Ursula Lehmkuhl, Christoph Marx, Martin Mulsow, Jürgen Osterhammel, Wolfgang Reinhard, Wolfgang Schmale, Peer Schmidt, Susanne Scholz, Anette Völker-Rasor, Wolfgang E. J. Weber und Reinhard Wendt. Die Volkskundlerin Göttsch-Elten, die Kunsthistorikerin Grötecke und die Literaturwissenschaftlerin Scholz referieren über Möglichkeiten der fächerübergreifenden Kooperation zwischen der geschichtswissenschaftlichen Frühneuzeitforschung und den von ihnen vertretenen Fächern.
Das Oldenbourg-Geschichte-Lehrbuch (= OGL) Frühe Neuzeit bemüht sich, das Fach forschungsorientiert in der ganzen inhaltlichen und methodischen Breite vorzustellen, in der es gegenwärtig in der Zunft der Frühneuzeitler vertreten wird.
Um den Arbeitsbereich des Frühneuzeitlers vom 16. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution zu erschließen, gliedert sich das OGL in vier Themenblöcke, die es ausdrücklich als das Resultat einer Auswahl kennzeichnet (S. 7): "Die Schneisen hätten sich auch anders schlagen lassen." Teil I bietet unter der Überschrift Phasen der Frühen Neuzeit einen chronologischen Durchgang durch die Epoche. Der Arbeitsbereich des Frühneuzeitforschers wird dabei nicht nur aus einer konventionellen europäischen Perspektive betrachtet, sondern um einen "Welt-Maßstab" erweitert, womit das OGL dem allmählichen Zurücktreten europazentrischer Perspektiven in der Frühneuzeitforschung Rechnung trägt. Teil II (Zugänge zur Frühen Neuzeit) ordnet den Stoff unter systematischen Gesichtspunkten. Am Beispiel der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Mentalitätengeschichte und der Geschlechtergeschichte werden neuere Impulse innerhalb des Faches vorgestellt, außerdem Wege zu einer interdisziplinären Kooperation mit der Volkskunde, der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte aufgezeigt. Fokus der Zusammenstellung ist der Begriff der Kulturgeschichte (S. 145). Teil III ("Vorgehen der Forschung") führt in das Handwerk des Historikers ein, indem er über geschichtswissenschaftliche Erkenntnis, Deutung und Darstellung reflektiert und die aktuelle Bandbreite der Quellen, Themen und Instrumente vorstellt, mit denen der Frühneuzeitler arbeitet. Der vierte Block informiert über die "Einrichtungen der Forschung", wobei nicht nur über die Situation des Faches in Deutschland und über die Zentren der Frühneuzeitforschung in Europa reflektiert wird, sondern sich der Blick erneut für die außereuropäische Geschichte der Epoche öffnet. Zwischen die Themenblöcke I-IV sind Kapitel zur Technik des wissenschaftlichen Arbeitens eingeschaltet, die ausschließlich didaktische Ziele verfolgen: Das Lesen der Geschichte, Die Arbeit mit den Quellen, Die Präsentation eines Themas. Jedes Kapitel schließt mit einem Literaturverzeichnis ab, dem der Lernende eine erste Orientierung über den neueren Forschungsdiskurs entnehmen kann. Ein System von Querverweisen innerhalb des Lehrbuches verzahnt die Einzelbeiträge miteinander. Verzeichnisse der Abkürzungen, der Autorinnen und Autoren sowie Personen- und Sachregister runden den Band am Ende ab. Fragen der Theorie und Methodik werden integrativ behandelt, d.h. aus den Einzelbeiträgen zu Themen und Techniken der Forschung entwickelt.
Das OGL ist aus Gründen des Umfangs zu radikaler Stoffreduktion, zu strikter Auswahl und zu exemplarischem Arbeiten gezwungen. Es ist deshalb unvermeidlich, dass der Rezensent auf eine Fülle von Details stößt, über die man trefflich streiten könnte. In mancherlei Hinsicht hätte er anders gewichtet oder Themen anders gesetzt. Das Schaubild, auf dem Wolfgang Schmale Generalthemen der Mentalitätenforschung zusammenstellt (S. 172), bietet doch wohl eher einen Pichelsteiner Eintopf inkommensurabler Begriffe als eine Orientierungshilfe für den Studierenden. Manche Formulierungen lassen zu wünschen übrig. So werden wir um die Erkenntnis bereichert, dass "sich serielle Quellen durch ihren seriellen Charakter [...] auszeichnen" (S. 173), und fragen uns erstaunt, ob irgendetwas tatsächlich eine "Prämisse zur Folge" (S. 163) haben kann. Manches ist auch schlichtweg falsch. Auf S. 38 etwa wird die Entstehung der Vogelperspektive - die schon den berühmten Vogelschauplan der Stadt Venedig auszeichnet, den Jacopo de' Barbari im Jahre 1500 schnitt - aus der italienischen Renaissance in das Frankreich des Sonnenkönigs Ludwig XIV. verfrachtet.
Ein Gesamturteil muss jedoch unbedingt positiv ausfallen. Das OGL, das sich selbst als "eine ganz neue Art von Lehrbuch" einführt (S. 8), wirkt vor allem durch seine Weltoffenheit und durch seinen multiperspektivischen Zugriff erfrischend. Es trägt der inhaltlichen Offenheit und dem Methodenpluralismus der aktuellen Frühneuzeitforschung Rechnung und argumentiert im Ganzen auf der Höhe der Fachdiskurses. Es löst sein Versprechen ein, "einen strukturierten und kompetenten Überblick über die Epoche der Frühen Neuzeit" (S. 9) zu geben, Lerneffekt und Leselust miteinander zu verbinden (S. 7). Die Texte sind um eine verständliche Sprache bemüht, der Band zeichnet sich durch Übersichtlichkeit und durch eine anschauliche Präsentation aus, die den Haupttext durch zahlreiche Abbildungen, Schaubilder, Zeittafeln, Detailskizzen und Stimmen aus der Forschung auflockert und ergänzt.
In summa: Das OGL Frühe Neuzeit bietet allen, die sich für die Frühe Neuzeit und ihre Erforschung interessieren, eine kompetente Orientierung auf hohem Niveau. Es verdient eine breite Nutzung inner- und außerhalb der Universitäten.
Vgl.: Rezension von Hilke Günther-Arndt in PERFORM 1 (2000), Nr. 6.
Empfohlene Zitierweise:
Peter Arnold Heuser: Rezension von: Anette Völker-Rasor (Hg.): Frühe Neuzeit. Mit einem Geleitwort von Winfried Schulze, München: Oldenbourg, in: INFORM 2 (2001), Nr. 6, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=480>
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