Marcus Weidner: Landadel in Münster 1600-1760. Stadtverfassung, Standesbehauptung und Fürstenhof. 2 Bände (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, Neue Folge; Bd. 18 I/II), Münster: Aschendorff 2000, XIV + 1268 S., zahlreiche Abb., Grafiken und Tabellen, ISBN 3-402-06641-6, DM 158,00
Aus: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde (46 (2001), S. 482-484)
Rezensiert von:
Peter Arnold Heuser
Bonn
Die zweibändige, äußerst material- und ertragreiche Arbeit ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die der Historiker Heinz Duchhardt an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster betreut hat. Marcus Weidner studiert für die Periode von 1600 bis 1760 die Ursachen, die Formen und Funktionen, die der Aufenthalt weltlicher Adliger aus dem Fürstbistum Münster in der Haupt- und Residenzstadt Münster hatte. Im Zentrum seines Interesses steht das Verhältnis von Adel und Stadt, das Weidner zu Recht als einen "bis heute vernachlässigten Aspekt der Adelsgeschichte der Frühen Neuzeit" (S. XII) qualifiziert. Sein beachtenswerter, weitausgreifender Forschungsbericht (S. 4-20) weist der Thematik "Adel und Stadt" das Potential zu, sich "zu einem integralen Aspekt der Adelsforschung" (S. 18) zu entwickeln. Weidner studiert - aus der Perspektive des Adels und auf das Fallbeispiel Münster bezogen -, "1. verschiedene sozio-kulturelle und territoriale Formierungsprozesse, die ihren Ausgang im 16. Jahrhundert nahmen und in deren Verlauf das Verhältnis von Landadel, Fürst und landständisch-territorialer Institutionen zur Stadt einem grundlegenden Wandel unterzogen wurden, und 2. das räumliche Ziel des Adels selbst - die Stadt Münster -, die auf dem Hintergrund ihrer zentralörtlichen Aufwertung nicht allein zu einer objekthaften Handlungs- und Repräsentationsbühne des Adels wurde, sondern ebenso ihre Interessen gegen die adlig-ländliche Elite zu behaupten versuchte" (S. 4). Als Materialgrundlage stand eine reichhaltige Quellenüberlieferung im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster, im Stadtarchiv Münster, vor allem aber in zahlreichen Privatarchiven des münsterländischen Adels zur Verfügung, durch die sich der Autor jahrelang mit ungemeinem Fleiß hindurchgearbeitet hat.
Christoph Bernhard von Galen, der Fürstbischof von Münster, integrierte die Stadt Münster im Jahre 1661 gewaltsam in sein Fürststift. Die Machtverschiebung zugunsten des Landesherren beendete Auseinandersetzungen um die Stadtherrschaft, die seit dem 16. Jahrhundert schwelten. Die Stadt wurde seither fest in das Koordinatensystem des fürstbischöflichen Territorialstaates eingegliedert. Münster war Sitz der Zentralverwaltung des Fürstbistums, die sich in der Frühen Neuzeit allmählich ausformte, und war als Residenz des Fürstbischofs ein höfischer Mittelpunkt; wenngleich Münster im Untersuchungszeitraum, den Weidner wählt, über lange Zeiträume hinweg eine gewisse Ferne zum Landesherren aufwies. Denn die wittelsbachischen Fürstbischöfe Ernst (1585-1612), Ferdinand I. (1612-1650), Maximilian Heinrich (1683-1688) und Clemens August (1719-1761) waren zugleich Kurfürsten von Köln und regierten das Fürstbistum Münster größtenteils von den kurkölnischen Residenzen Bonn und Brühl aus. Ihre räumliche Ferne und der Nebenland-Charakter des Fürstbistums schufen einen politisch-administrativen Freiraum, in dem sich die Landstände - darunter der landtagsfähige Adel - entfalten konnten. Weidners Studie nimmt speziell den stiftischen Landadel in den Blick, dessen nachgeborene Söhne auch das Münsteraner Domkapitel prägten, das als Bischofswähler, als Mitregent und erster Landstand über beträchtliche weltliche Macht im Fürstbistum verfügte. Die enge personelle Verflechtung, die zwischen Landadel und Domkapitel bestand, und die einflussreiche Position, die der Landadel in den Regierungsbehörden wie unter den Landständen innehatte, erklären, weshalb Weidner aus seiner Untersuchungsperspektive heraus interessante Beobachtungen zur Entwicklung der Binnenstruktur des Fürstbistums im Zeitalter des Barock beisteuern kann. Seine Studie verdient deshalb nicht zuletzt aus der Perspektive der Entstehung des frühmodernen Staates Beachtung.
In der Beziehung zwischen Landadel und Stadt Münster gilt das besondere Augenmerk des Verfassers den rechtlich-fiskalischen Konflikten, die aus der Anwesenheit des Adels in der Stadt und aus dem Bau seiner Stadthöfe resultierten.
Der Volkskundler profitiert in mehrfacher Hinsicht von seinen Ausführungen. Weidner zeigt anhand einer lesenswerten Skizze der sozio-kulturellen Entwicklung des Münsteraner Stiftsadligen vom Landjunker zum Kavalier im 17. und 18. Jahrhundert, wie kulturelle Wandlungsprozesse, etwa die Aufwertung der höfischen Gesellschaft, für den Landadel die Motivation veränderten, sich in der Residenzstadt aufzuhalten. Das vermehrte Eindringen des Landadels in die Stadt um 1700 erweist sich nicht zuletzt als das Resultat eines Kulturtransfers von europäischer Dimension, wobei die Bildungsreisen des münsterischen Stiftsadels nach Frankreich und Italien maßgebliche Impulse setzten. Der ausführliche Bericht über die Ausbildungsformen, die der münsterische Stiftsadel wählte, und über seine Bildungsreisen verdient zugleich das Interesse des Bildungs- und Universitätsgeschichtlers. Überdies enthält Weidners Studie reiches Material zum Wohn- und Repräsentationsverhalten, das der stiftmünsterische Landadel in der Stadt Münster an den Tag legte. Weidner beleuchtet die sozio-ökonomischen, kulturellen und architektonischen Akzente, die der Adel in der Hauptstadt setzte, und beobachtet die Entwicklung der Stadt "zu einer multifunktionalen Bühne des Adels" (S. 3), die saisonal - vor allem im Herbst und Winter - der Lebensmittelpunkt des stiftmünsterischen Adels wurde.
Der zweite Band enthält eine ausführliche Dokumentation, die den darstellenden ersten Teil ergänzt und abrundet. Künftige Forschungen zur Geschichte der stiftmünsterischen Administration, des Ständewesens und der Sozialgeschichte städtischer und ländlicher Gesellschaften im Münsterland profitieren von dem reichen prosopographischen Material, das Weidner über den Münsteraner Stiftsadel des 17. und 18. Jahrhunderts zusammenträgt. Der umfangreiche Katalog der adligen Stadthöfe in Münster, den Weidner erarbeitet, ist eine unverzichtbare Grundlage für künftige Studien über adlige Wohnkultur und adlige Lebenswelten im frühneuzeitlichen Westfalen. Kunsthistorisch und historisch-topographisch ersetzt der Katalog der stadtmünsterischen Adelshöfe die entsprechenden Partien der einschlägigen Bände der "Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen", die Max Geisberg 1934 und 1935 publizierte. Ein umfangreicher Anhang informiert über Währungen und Maße, über Abkürzungen und Siglen, verzeichnet die benutzten Quellen und Literatur, weist die zahlreichen Abbildungen und Tabellen nach. Personen- und Ortsregister runden die Studie ab.
Weidner macht - wie Franz-Josef Jakobi, der Direktor des Stadtarchivs Münster, in seinem Vorwort herausstellt (S. XI) -, "die intensive Verbindung des landsässigen westfälischen Adels mit der Haupt- und Residenzstadt des Fürstbistums im 17. und 18. Jahrhundert [...] erstmals in vollem Umfang sichtbar". Die gewählte Untersuchungsperspektive, die die stiftmünsterische Ritterschaft ins Zentrum rückt, ermöglicht es dem Autor, die komplexe Beziehungsgeschichte einer frühneuzeitlichen Stadt zum frühmodernen Staat sowie die ständigen Wechselwirkungen zwischen städtischem Zentralort und Umland zu erfassen, zugleich der kulturellen Einbettung langfristiger sozio-ökonomischer Transformationsprozesse und politisch-territorialer Veränderungen Rechnung zu tragen. Weidners Fallstudie ist eine reife Leistung moderner Stadtgeschichtsforschung und verdient eine breite Beachtung über die regionalgeschichtliche Forschung hinaus.
Empfohlene Zitierweise:
Peter Arnold Heuser: Rezension von: Marcus Weidner: Landadel in Münster 1600-1760. Stadtverfassung, Standesbehauptung und Fürstenhof. 2 Bände, Münster: Aschendorff 2000, in: INFORM 2 (2001), Nr. 6, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=483>
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