Norman-Mathias Pingel (Bearb.): Teiledition der Chronik des Braunschweiger Bürgermeisters Christoph Gerke (1628-1714), mit einem Beitrag von Herbert Blume (= Quaestiones Brunsvicenses. Berichte aus dem Stadtarchiv Braunschweig; Bd. 11-12), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1999, 272 S., ISBN 3-7752-5790-X, 10,00
Aus: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte (82 (2001), S. 236 f.)
Rezensiert von:
Dieter Lent
Die Stadt Braunschweig hat auffallenderweise erst sehr spät eine durchlaufende Stadtchronik erhalten, die Andreas Schoppius 1561 verfaßt hat. Diese seinerzeit beliebte Chronik ist bis Anfang des 18. Jahrhunderts von vielen späteren Kompilatoren usw. ab-, um- und weitergeschrieben worden und liegt heute in mehr als 50 Handschriftenexemplaren verstreut vor. Erstaunlicherweise ist dieses große, unübersichtliche Geflecht der sogenannten "Schoppius-Chroniken" bisher weder wissenschaftlich untersucht noch sind Teile daraus zuverlässig veröffentlicht worden. Ein erster Editionsversuch 1832 ist mißglückt. Mit der vorliegenden Edition wird hier endlich eine lästige Lücke geschlossen und erstmals ein frühneuzeitlicher Stadtchroniktext aus der Schoppius-Nachfolge umfangreich präsentiert. Es wird damit in einem ersten Schritt nachgeholt, was Hänselmann im 19. Jahrhundert für die braunschweigische mittelalterliche Chronistik so vortrefflich geleistet hatte.
Gerkes Chronik ist eine der spätesten und merklich herausragenden Fassungen in der langen Kette der Schoppius-Tradition. Gerke war historiographisch gut gerüstet: der als Braunschweiger Ratsherrensohn geborene Jurist war 1657 bis 1661 Ratssekretär und seit 1662 Bürgermeister des Hagen. Aus historischem Interesse und in guter Kenntnis des Stadtarchivs schrieb er mit quellenkritischem Sachverstand ab 1665 seine von Anbeginn der Stadt bis 1671 reichende Stadtchronik, deren Schwerpunkt auf den innerstädtischen Streitigkeiten und in den Auseinandersetzungen mit den Welfenfürsten liegt. Pingel ediert von den 2000 Seiten der Chronikhandschrift 14 Kapitel mit ca. 350 Seiten, und zwar allergrößtenteils aus der Zeitspanne 1525 bis 1671. Etwa 60 Druckseiten bieten Selbsterlebtes der Jahre 1657 bis 1671, nämlich die Pestepidemie von 1657, das Verhältnis der Stadt zu den Herzögen 1666 bis 1668, die innerstädtischen Konflikte 1669 bis 1670 und schließlich die Belagerung und Einnahme der Stadt 1671 (bei der Gerke persönlich die Stadtschlüssel ausliefern mußte). Im Gewand der barock-gespreizten, weitschweifigen und umständlichen Sprache seiner Zeit entfaltet sich ein überaus einprägsames und fesselnd detailreiches Gesamtbild dieser deprimierenden und von Gerke tief beklagten letzten Epoche der Stadtfreiheit. Schwerpunkte der Chronikabschnitte vor 1657 sind: Reformation, die barbarische Zerstörung des Cyriaksstifts (1545), Konflikt mit der Stadtgeistlichkeit 1603/04, Bestrafung der Bürgerhauptleute 1604/05, Überfall durch Herzog Heinrich Julius 1605, der Verfassungsumbruch von 1614. Leider ist noch nicht untersucht, auf welche Textzeugen innerhalb der Schoppiustradition die Gerkekapitel für die Zeitspanne 1525 bis 1657 eigentlich aufbauen. Im Vorwort seiner Chronik bestätigt Gerke das althergebrachte Historikerurteil (Albert Krantz usw.), die "gute Stadt Braunschweig" müsse "auf einem aufrührerischen Boden gebauet sein." Neben diesen innerstädtischen Unruhen sieht er als stadtgeschichtlichen Leitfaden die Verteidigung der Stadtfreiheit gegen die Fürsten.
Der Reiz der edierten Chroniktexte liegt neben der zum guten Teil zeitzeugenhaften Stoffdarbietung in der altertümlichen Sprachgestalt sowie der uns weit entrückten Auffassungsweise eines führenden, hochgebildeten Stadtrepräsentanten des 17./18. Jahrhunderts. Als Stilprobe sei aus seiner Einleitung sein Arbeitsziel zitiert: "Dannenhero bin ich bewogen, aus denen Historicis wie auch einem oder anderen ... Manuscripto solche [sc. Streitigkeiten mit den Fürsten und innerhalb der Stadt] zu extrahieren und der lieben Posterität zu gute zusammen zu tragen."
Die buchstabengetreue Teiledition der Chronik durch Pingel ist mustergültig: eine längere biographische Einleitung, eine Fülle von Wort- und Sacherklärungen in den kommentierenden Fußnoten, Personen- und Ortsindices sowie mehr als 40 textbezogene Abbildungen machen den nicht selten spröden und schwierigen Text auf das Höchstmöglichste zugänglich. Die Einleitungen von M. Garzmann und H. Blume stellen die Chronik in die stadtgeschichtlichen und stadthistoriographischen (u. a. Hermann Bote) Zusammenhänge. Mit dieser Edition ist endlich ein markanter Anfang in der Erforschung und Publizierung der frühneuzeitlichen braunschweigischen Stadtgeschichtsschreibung gemacht, der hoffentlich eine Fortsetzung findet.
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Lent: Rezension von: Norman-Mathias Pingel (Bearb.): Teiledition der Chronik des Braunschweiger Bürgermeisters Christoph Gerke (1628-1714), mit einem Beitrag von Herbert Blume, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1999, in: INFORM 3 (2002), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=493>
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